Hurra, neue Regierung! Alles soll mal wieder anders und neu – vor allem besser werden. Die Wirtschaft soll aufwärts gehen, die jungen Griech*innen, die ins Ausland vor der Krise geflohen sind, wieder ins Land geholt und alte verlorene, durch die linke Parenthese zertretene Werte wieder auf die nationale Agenda gesetzt werden. Und Griechenland soll endlich ein sicheres Land werden. Polizei aufrüsten. Bandenkriminalität bekämpfen. Geflüchtete räumen. Anarchisten verjagen. Wo im Land, in dem die Demokratie erfunden wurde, kann dies besser exemplarisch auf einen Schlag vollzogen werden, als im dunklen Athener Anarcho-und-Junkie Stadtteil Exarchia. Sofortiger Regierungswechsel und wir säubern dieses gottverdammte Loch. Die Operation läuft an. Der Aktionsplan steht. Mitsotakis lächelt in die Kameras. Noch.
Für viele im heutigen Deutschland scheint es schwer vorstellbar: Es gibt in der Hauptstadt des Landes ein ganzes Viertel, in dem die Uhren noch etwas anders ticken, wo Menschen miteinander auf der Straße und kleinen Plätzen in Kontakt kommen, sich austauschen und gemeinsam Sachen machen, das Leben in relativ individueller und kollektiver Autonomie, in einer ständigen Balance, am Rande des Staats, erleben. Nicht alles ist perfekt. Oder einfach. Ohne Staat heißt auch Verantwortung, die auch oft auf die Füße fällt. So war es auch in Kreuzberg der 70er-80er oder im besetzten Christiania der ersten Generation in Kopenhagen. Es gibt diese Orte, in die sich die Polizei nicht immer rein traut, wo in einer Bar hängen gleichzeitig auch konspirativ ist und die Tourist*innen kommen, um prompt dem Flair des Tränengas wieder zu entlaufen. Sie haben es aber nicht verstanden. Die aus der Bar aber wissen Bescheid. Und werden jeden Angriff gemeinsam mit den Nachbar*innen abwehren.
Exarchia – in Griechenland für einige ein Synonym für Chaos und Drogenhandel – ist eigentlich eine historische Nachbarschaft zwischen zwei Hügeln in der City Athens. Benannt nach einem Lebensmittelhändler, entstand das Viertel Ende des 19. Jahrhunderts. Seit den 60er Jahren entwickelte es sich zum Studierendenviertel und Treffpunkt der alternativen Polit- und Kulturszene. Noch heute ist das Viertel geprägt von Cafés, Druckereien, Verlagen und Buchläden. Die Geschichte des Viertels ist eng verknüpft mit der Entwicklung des linksradikalen und anarchistischen Raums seit dem Ende der Diktatur 1974. Schon beim Polytechnikum Aufstand 1973 war eins der zentralen Transparente „gegen Staat und Kapital“ gerichtet. Im Dezember 2008, als der 15-jährige Schüler Alexandros Grigoropoulos, mitten im Herzen des Viertels durch Polizeikugeln stirbt, bricht eine Revolte aus, die sich sogar auf kleine Ortschaften und Inseln ausbreitete. Bereits 1985 gab es landesweite Unruhen, nachdem der 15 Jahre alte Michalis Kaltezas von Sicherheitskräften getötet wurde. Die gewaltsame Revolte 2008 ist der Höhepunkt dieses langjährigen Zusammentreffens von Schüler*innen und Studierenden, Politisierten und Prekären – eine Zwischenstation waren die studentischen Proteste 2006-07 gegen die Neoliberalisierung der Unis, die im Rahmen des Bologna Prozesses stattfand.
Das Viertel selbst ist im ständigen Wandel – einerseits ist es der Ort wo viele selbstorganisierte Initiativen zusammen kommen, neue soziale Bewegungen reflektiert werden und auch mit Repression begegnet werden, anderseits ein umkämpfter Ort zwischen verschiedenen wirtschaftlich-sozialen Interessen. Allein seine zentrale geographische Position in der Stadt macht es attraktiv für Immobilienhaie die sich eine Gentrifizierung der Gegend wünschen und letztendlich eine Verdrängung der widerständigen Bevölkerung und Einfuhr von gutverdienenden Yuppies aller Art und Länder. Vor dem Ausbruch der Staatsverschuldungskrise im Jahr 2009 konnten diese Versuche beobachtet werden – das Stadtbild veränderte sich durch die Öffnung von exklusiven und yuppisierten Cafés und sonstigen Einrichtungen, die auf das Wohl einer auf Konsum und Service einer Mittelschicht ausgelegt sind. Die Krise machte den Gentrifizierern einen Strich durch die Rechnung – Immobiliensektor in roten Zahlen, keine Kredite, Drogenbanden übernahmen das Revier, die Polizei verlor abermals die Kontrolle. Parallel vermehrten sich die politischen Besetzungen im Viertel, erst durch Not und Selbstorganisierung, dann als Solidaritätsstruktur für die Ankunft von tausenden Geflüchteten. Die Antwort der lokalen Bevölkerung und Aktivist*innen auf das Schließen der Grenzen war die Eröffnung von dutzenden Wohnsquats und die Organisation und Verteilung von Kleidung, Essen und Bildung. So bietet sich ein paradoxes Bild: Airbnb-Tourist*innen und Geflüchtete Hauswand an Hauswand, wobei erstere zunehmend auf Kritik stoßen und immer weniger willkommen sind (siehe Bild mit Transparent).
Ist Exarchia heute also nur ein „Problemviertel“? Tatsächlich reicht es einen Tag im Viertel zu verbringen um zu merken, dass es sich um mehr als nur eine „Hochburg von Autonomen“ handelt. Es ist einerseits ein historischer Ort sozialer Auseinandersetzungen der griechischen Gesellschaft und anderseits ein Kulminationspunkt von alternativen Prozessen. Eine vernetzte Nachbarschaft wehrt sich seit Jahren gegen organisierten Drogenhandel und Gentrifizierungsprozesse. Viele linke und anarchistische Gruppierungen betreiben eigene Zentren – darunter das „Zentrum für Migranten“ von „Diktyo“-Netzwerk für politische und soziale Rechte oder das „Nosotros“ – soziales Zentrum der „Antiautoritären Bewegung“ Athens. Molotow-cocktails bauen ist ein wichtiger Bestandteil der Straßenkultur, aber Menschen treffen sich auch zu Veranstaltungen zur Kapitalismuskritik oder bauen Kollektive auf. Im Rahmen der Krisenverwaltung der letzten Jahre entstanden weitere Projekte, wie eine soziale Arztpraxis beim anarchistischen Zentrum „Vox“ und es gab eine Welle von Besetzungen für und mit Geflüchteten. Die Besetzungen „Notara26“ oder das nicht mehr existierende „City Hotel Plaza“ haben tausenden Geflüchteten mit Schlafplätzen und Essen versorgt.
Was ist aber genau geplant? „Gesetzlose Orte auflösen“
Die folgenden Infos zum Aktionsplan stammen von Veröffentlichungen in griechischen Zeitungen – Sprache und Style wurden bei der Übersetzung bewusst beibehalten
Exarchia war dem Staat und seinen Regierungen schon immer ein Dorn im Auge und muss im öffentlichen Sicherheitsdiskurs als Beispiel des „Ausnahmezustands“ herhalten. In den letzten Monaten griffen die Konservativen die vermeintlich steigende Anzahl an Ausschreitungen öfter auf, um der Regierung von Alexis Tsipras Kontrollverlust vorzuwerfen. In einer Parlamentsdebatte im Wahlkampf behauptete der Chef der Konservativen Kyrgiakos Mitsotakis, dass er im Falle einer Regierungsübernahme „Exarchia aufräumen werde“ und alle „gesetzlosen Orte“ in diesem Stadtteil bedingungslos auflösen werde. Syriza antwortete auf Vorwürfe dieser Art mit der Anzweiflung einer solchen geforderten klassischen „Law-and-Order Politik“, die nur auf „repressive Polizeieinsätze und dem schüren von Hass aufbaut“.
Der aktuell in den Medien veröffentlichte Aktionsplan für Exarchia umfasst sowohl Maßnahmen, die eine sofortigen Umsetzung mit sich bringen als auch Interventionen mit kurzfristiger bis langfristiger Umsetzungszeit. Sofortige Umsetzungsmaßnahmen sehen unter anderem die Aktivierung eines Teams von Führungskräften aus verschiedenen kommunalen Abteilungen vor, mit der Aufgabe, die grundlegende urbane Funktionalität des gesamten Exarchia-Gebietes in sehr kurzer Zeit wiederherzustellen.
Es handelt sich um ein Team von 50 Mitarbeiter*innen aus den Bereichen Reinigung, Umwelt, Elektrizität, Gesundheit und Gemeindepolizei, die innerhalb von zwei Wochen und ohne zusätzliche Kosten in folgenden Bereiche tätig werden sollen:
– Verbesserung der Sauberkeit des Bereichs und Wiederherstellung von Graffiti-Wänden.
– Wiederherstellung der Funktion der städtischen Beleuchtung in allen Stadtteilen des Gebietes.
– Schadensbehebung in öffentlichen Bereichen und Stadtpflanzungen.
– Versiegelung von Gebäuden, die von der Besetzung befreit sind und Beseitigung jeglicher illegaler Handelstätigkeit.
– Sicherstellung der öffentlichen Gesundheit, insbesondere bei der Nutzung von Gebäuden.
Kurzfristig sind auch Maßnahmen zur „Verbesserung des täglichen Lebens“ für Bewohner*innen, Fachleuten und Besucher*innen vorgesehen. Die Führungskräfte der Gemeinde in den genannten Bereichen werden für die Umsetzung von Projekten verantwortlich sein, deren Kosten auf ca. 1,3 Mio. Euro geschätzt werden, die ebenfalls_zusätzlich die Ordnung in der Region wiederherstellen sollen. Dabei handelt sich vor allem um:
– Einrichtung eines Leitungsorgans für die Probleme und Maßnahmen des Gebiets und Ernennung eines Sonderbeauftragten für Exarchia.
– Implementierung eines partizipativen Prozessmodells, das die lokale Bevölkerung in die Entscheidungsfindung und Projektplanung einbezieht.
– Maßnahmen für „offene Schulen“ in den vier Gebieten der Region, die mit der Rückkehr zum normalen städtischen Funktionieren des Gebiets beginnen sollen. Die Aktion betrifft Lehrer, Eltern und Schüler, während auf den Schulhöfen kreative Aktivitäten, Sport und Spiel sowie Bildungsaktivitäten (nachmittags, am Wochenende) stattfinden sollen. Dazu gehören auch Planung von kulturellen Veranstaltungen auf dem Exarchia-Platz, in Schulen und im öffentlichen Raum.
– Sofortige Senkung der Gemeindeabgaben und Rationalisierung der TAP (kommunale Immobilienabgabe) für Unternehmen in der Region im Hinblick auf die Wiederbelebung des lokalen Marktes.
– Kleinere Arbeiten an Gehwegen und Bürgersteigen, um ihre Funktionalität zu verbessern und mehr Grünflächen zu schaffen, insbesondere an den Straßen Notara und Themistokleous.
Mittelfristig dürften sich die Maßnahmen auf die Funktionalität und das tägliche Leben des Gebiets auswirken, die sich somit positiv auf die lokale Wirtschaft, den Verkehr und das Image des Gebiets auswirken sollen. Dazu gehören Projekte mit geschätzten Kosten von ca. 7,9 Mio. € und einem Umsetzungszeitplan von bis zu 18 Monaten, wie z.B.:
– Restaurierung des Strefi-Hügels „um sich funktional und ästhetisch in den Alltag der Einheimischen zu integrieren“. Zunächst ist die Bereitstellung von 1,65 Mio. € für die Wiederherstellung der lokalen Infrastruktur (Spielplatz, Kiosk), die Verbesserung der Beleuchtung, die Schaffung von Gehwegen, Maßnahmen zur Regenwasserentnahme und Bewässerung, die Wiederherstellung bestehender und die Hinzufügung neuer Bepflanzungen und schließlich die Schaffung von Brandschutzinfrastruktur (Armaturen und möglicherweise eine kleine Pumpstation) vorgesehen.
– Die Fussgängerzonen der Straßen Kountouriotis, und Teilen der Straße Valtetsiou, sollen mit geschätzten Kosten von 400.000 € erneuert werden.
– Rückgabe der Nutzung des besetzten Navarino-Parks an die Gemeinde und dessen Umbau als städtische Grünflächen und einem Spielplatz für 150.000 €.
– Stärkung des lokalen Unternehmertums und Anreize für die Gründung neuer Unternehmen in der Region durch die Ressourcen der Attica RWF (Regionaler Wirtschaftsfond), die von der Gemeinde Athen verwaltet wird. Es ist die finanzielle Unterstützung der kleinen und mittleren Unternehmen, die in dieser schwierigen Zeit Schwierigkeiten hatten, sich zu behaupten. Die Unterstützung könnte sich auf 200.000 € an förderfähigen Kosten pro Unternehmen belaufen, wobei 100% der Gemeinschaftsmittel bereitgestellt werden.
– Anreize zur Gründung neuer Unternehmen in Exarchia, um das lokale Wirtschaftsökosystem zu stärken und zu bereichern, insbesondere in den Bereichen Kreativwirtschaft, Tourismus, Verlagswesen, Informations- und Telekommunikationstechnologien, mit geschätzten Kosten von 5 Mio. €.
– Schaffung von Anreizen für die Renovierung und Wiederverwendung bzw. Nutzung des alternden Gebäudebestandes und der Flächengebäude.
Das grosse Ziel: Metrostation in 5 Jahren
Langfristig, was voraussichtlich zwischen zwei und fünf Jahren bedeutet, sind Maßnahmen geplant, die das Image des Exarchia-Gebietes radikal verändern und neue Perspektiven und Entwicklungsmöglichkeiten in der Region schaffen sollen. Zu den Maßnahmen gehören:
– Die Zusammenführung des Archäologischen Museums und des historischen Polytechnikums zu einer einzigen funktionalen Einheit, wobei ein Teil des Bildungsauftrags in Bezug auf den Betrieb der Architektenschule beibehalten wird. Diese Intervention wird von den hohen Prioritäten der Regierung priorisiert und erfordert eine enge Zusammenarbeit aller Beteiligten.
– Die Inbetriebnahme der – schon seit vielen Jahren geplanten – U-Bahn-Station Exarchia im Rahmen der Entwicklung der Linie 4 (von der Beiruter Allee bis Goudi), die mit integrierten Grünwegen und neuen Fußgängerzonen kombiniert wird.
– Umsetzung des institutionellen Rahmens für verlassene Immobilien durch Schaffung geeigneter Finanzierungsinstrumente und Anreize in Zusammenarbeit mit der Europäischen Investitionsbank. Die Planung der Gemeinde beinhaltet die Entwicklung eines Kreditprodukts, das die Eigentümer von leeren und verlassenen Gebäuden finanziert, um Sanierungs- und Entwicklungsmaßnahmen durchzuführen, die es an die Gemeinde zurückzahlen, indem sie lange Zeit Gemeindegebühren zahlen.
Zurück zur Realität…
Klingt erstmal nach einem krassen Plan. Wichtig ist aber zu verstehen, dass solche Pläne in den letzten zwanzig Jahren bereits mehrfach die Seiten der Zeitungen gefüllt haben – vor allem im Sommerloch. Wenn du einen Taxifahrer in Athen fragst, ob sich in Exarchia was ändern wird – egal auf welcher Seite er steht – wird er achselzuckend zu Protokoll geben, dass sich natürlich nie etwas ändern wird.
Anläufe zu größeren Repressionskampagnen gab es schon mehrmals. In der Krisenzeit im Dezember 2012 kam es zu den Räumungen historischer Squats wie der Villa Amalia. Sogar in der Syriza-Zeit waren immer wieder verschiedene Projekte bedroht, weil Alexis Tsipras und seine Freund*innen als Reaktion auf den Druck der Opposition der Nea Demokratia, das ein oder andere Mal etwas preisgegeben haben – siehe vor allem die Räumungen von Refugee-Squats in Athen und Thessaloniki im Sommer 2016.
Dem Taxifahrer geben auch viele unserer Genoss*innen vor Ort recht. Einige lachen sich weiterhin kaputt über die Witzfigur Mitsotakis, die alles und alle „aufräumen“ möchte. Trotzdem formiert sich langsam der Widerstand – erste gemeinsame Plakate von bedrohten Projekten sind in den Straßen zu finden und eine große Szenedemo ist für den 14. September angekündigt. Viele Leute kehren nun von Sommerurlaub und -arbeit in die Stadt zurück. Infos werden ausgetauscht. Netzwerke aktiviert. Die große Panikmache hat noch nicht angefangen, trotz vermehrter Polizeikontrollen, vor allem gegen verdächtigte Dealer und trotz aktueller Presseartikel, die den bereits aufgeführten Aktionsplans anpreisen. Die Kontrollen können durchaus als Teil der Umsetzung des ersten Punkts des Aktionsplans verstanden werden. Das Bedrohungsszenario scheint wohl etwas größer zu sein als die letzten Male. Exarchia war ein wichtiger Grundstein des Wahlkampfs von Mitsotakis und eignet sich als perfektes Konfliktfeld im wieder hergestellten Zweiparteiensystem zwischen Syriza und Nea Dimokratia. Erste Räumungen von Besetzungen werden von Tag zu Tag erwartet .
Wird es zum großen Knall kommen? Eventuell bald. Vor allem als Teil eines größeren kapitalistischen Angriffs, wie zum Beispiel die Abschaffung des Uni-Asyls (das in den Unis seit dem Fall der Militärdiktatur existiert) und die Avancierung umfangreicher Privatisierungen im ganzen Staatsgebiet. Exarchia wird Mitsotakis und die über längere Frist drohenden Gentrifizierungsprozesse überleben, wenn es sich mit anderen kommenden sozialen Fronten verbindet. Der Aufstand sollte daher nicht ein identitärer werden – sonst geht er klaglos unter. Sondern einer für alle und um alles.