Kriegstagebuch #3

von Detlef Hartmann

Schon immer und vor allem zu Beginn der für das Verständnis der aktuellen Ereignisse wichtigen tayloristisch/fordistischen Innovationsoffensive hat der Krieg eine zentrale Rolle bei der Entfesselung der „animal spirits“ gespielt. Das sind nach Keynes die im weitesten, unternehmerischen und gesellschaftlichen Sinne treibenden innovatorischen Energien1. Das Folgende ist daher im Lichte der unkrainischen Kriegserfolge im Osten und der sie begleitenden innerrussischen Verfallsprozess zu verstehen. Vorweg darüber hinaus einige einleitenden Bemerkungen zu den Spielräumen für Verschuldung. 

Die Grenzen der Verschuldung

In Italien ertönt in der aktuellen durch die kriegsökonomischen Verengungen angespannten Situation zur Zeit der Ruf nach Draghis legendärer Ankündigung aus der Schuldenkrise von 2014: „Whatever it takes!, was immer es braucht“. Will sagen: das Angebot einer unbegrenzten Liquidität aus Draghis EZB gegen den Würgegriff der Verschuldung. Und es gibt auch hierzulande viele, die erwarten, dass die Sorgen durch die massive Ausweitung des Einsatzes von Staatsknete gegen die sozialen Bedrohungen aus Energiekrise und Inflation schon vertrieben werden. Wie immer.

Aber es ist nicht wie immer. Das musste Wirtschaftsminister Habeck und sein staunendes Publikum bei den Kontroversen um die von ihm projektierte Gasumlage zur Rettung des an den Rand der Insolvenz geratenen Gasimporteurs Uniper erleben.2 Die Steuerung der Gasumlage oblag einer Arbeitsgruppe aus leitenden Regierungsbeamten und privatwirtschaftlichen Experten aus Beratungsunternehmen (PWC, Lazard Frères, Anwaltskanzlei CMS) unter Konsultation der Ratingagentur S&P (Standard & Poor). Zu der darin liegenden Überantwortung von Regierungsaufgaben an das Kapital im Stile der KRA (s. Kriegstagebuch #2) weiter unten. Als Habeck dafür Staatsknete einsetzen will, droht S&P mit der Senkung von Unipers Rating auf Ramschniveau. Das würde sicher auch das Rating der BRD tangieren, das so wichtig für die deutsche Macht und Profite in Europa ist. Es steht bei allen Ratingagenturen ungefährdet im oberen AAA-Bereich. Gleichwohl kann man die Intervention von S&P durchaus als Warnschuss verstehen und eine Erinnerung, dass die politische Freiheit der deutschen Politik ihre Grenzen hat.

Habeck sitzt damit zwischen Baum und Borke, oder, mit dem griechischen Epiker Homer zwischen Skylla und Charybdis, den beiden Meeresungeheuern, die aus gefährlichen Strudeln nach dem Boot des Odysseus greifen wollen. Einerseits wird jede Flutung von europäischer und Weltwirtschaft mit neuer Liquidität die Inflation anheizen, die Energierechnungen verteuern und die Gefahr der Rezession vergrößern. In den europäischen Metropolen wird derzeit mit dem Einsetzen der Rezession Anfang 2023 gerechnet. Das Ratingunternehmen Fitch, mit S&P und Moody’s eins der drei großen und maßgeblichen Ratingagenturen, hat vorweg (sie schließt die Runde ihrer Endjahresbewertungen am 18.11. ab) in seinem „Global Outlook“ (15.9.) schon mit einer sehr schwarzen Beurteilung eingeleitet. Es vermindert die Wachstumserwartungen der deutschen Wirtschaft um 2,6 %, gefolgt von der italienischen um 2,6%.3 Man sollte da besser von Kontraktionserwartungen und Krisenwachstum sprechen. Das ist der Baum, die Skylla. Die Borke ist die soziale Situation der jetzt schon überausgebeuteten Arbeiter*innen bis in die unteren Mittelschichten in allen Bereichen, an denen sich schon unter Merkel die Unternehmen und gehätschelten Reichen gesättigt haben. Integriert in der korporatistischen Phase des deutschen Spätnazismus in den Nachkriegsjahrzehnten4, bröckelt der Kitt seit längerem, sodass die grünroten Herr*innen Unruhen befürchten. Die Kredit- und da vor allem die Überziehungskreditzinsen steigen, vor allem nach den Zinsentscheiden und Ankündigungen der EZB und die schon jetzt auf über 10% gestiegene Inflation fällt wie üblich nur mit der 1-1 1/2-jährigen Verzögerung. Trotz des nazistisch/korporatistischen Restkitts mag das nicht von ungefähr kommen und durch die Kriegseinbindung nicht kompensiert sein. Denn die Herr*innen haben ja noch einiges mit ihnen vor und in Osteuropa tanzt schon der Bär. 70 000 brüllten Anfang September ihre Wut auf dem Prager Wenzelsplatz über teure Energiepreise, nachlassendes Wirtschaftswachstum und steigende Inflation heraus. Allerdings mit nationalistischen („die tschechische Republik zuerst“) und prorussischen Untertönen. Auch in Polen wächst der Unmut über die Inflationsrate von 16,1% (bei einer Erwartung von 20% bis Anfang 2023), trotz des trade-offs mit einer noch erträglichen Konjunktur. Ähnliches gilt für Ungarn. Und auch in Deutschland und Fitch sieht in seinem Outlook eine hohe Rezessionserwartung für die ganze Region. Die tschechischen Demonstrant*innen planen schon für den 28.9.5

Die Rating-Agenturen hatten die ganze Zeit große Macht, vor allem in der europäischen Schuldenkrise.6 Aber woher kommt der neue Machtzuwachs? Er resultiert aus der US-Politik des starken Dollars als bestimmender Machtkern angesichts der neuen Schuldenkrise bzw. Inflationsentwicklung. Der starke Dollar hat seinen Grund in der derzeit unangreifbaren militärischen und technologischen Machtposition, ferner wie schon in den 30er Jahren7 der monopsonistischen (Nachfrage-)macht des weltweit bedeutendsten Markts, der energiepolitischen Unabhängigkeit (Öl, Atom, Gas/Fracking) und der nicht zuletzt damit verbundenen Tatsache, dass Energielieferungen weltweit in Dollar fakturiert werden. Diese Macht äußerte sich zuletzt in den drastischen, geradezu panikartigen Zinsentscheidungen und verkündeten –erwartungen der EZB, die den Euroverfall und Inflation wie auch Energiepreise umkehren sollen, trotz der dadurch gesteigerten Rezessionsgefahren. Diese Macht verwalten die Ratingagenturen, die das kapitalistische Kommando über die Regierungen hinweg oder durch sie hindurch in alle wertrelevanten gesellschaftlichen Bereiche hineintreiben. 

Strategische Stränge der kriegsökonomischen Machtformierung 

Es ist nicht verwunderlich, dass hier erst Konturen und Richtungen erkennbar sind. Denn die Höhepunkte der Krisenentwicklung wie auch der militärischen Konflikte und Spannungen sind noch nicht erreicht. Die Machtinhaber sondieren und zögern noch. Eins scheint sicher. Die Krise ist fundamental, ähnlich wie ihre im letzten Kriegstagebuch behandelte Analogie. Wie in der Krisenentwicklung vor 1914 und ihrer Wiederholung nach 1929 haben wir einen Punkt erreicht, von dem es keine Rückkehr gibt. Ebenso leiten die aktuellen Prozesse irreversible Veränderungen ein.

Der Krieg schleift die internationale Kooperation des “Komplexes“ (s. Krisentagebuch #1) weiter ein, auch der Verteidigungsministerien, nachdem die Kontaktgruppe der 30 Verteidigungsminister einmal ins Leben gerufen wurde. Parallel dazu werden im asiatischen Raum, sicher in der Auseinandersetzung mit China, aber zugleich mitangestoßen und intensiviert durch den Krieg, Initiativen der Kooperation lanciert. Wie z.B. das im März von Biden angekündigte Indo-Pacific Economic Framework (IPEF), für das 14 Länder mit insgesamt 40% der globalen Wirtschaftsleistung und 28% des weltweiten Handelsvolumens formelle Verhandlungen aufgenommen haben.8

Im europäischen Rahmen kann man einen regelrechten Aufbruch neuer Initiativen beobachten. Im Kern steht ein Vorhaben der EU-Kommission von Anfang September, das die unternehmerischen Kompetenzen und Verantwortung aus der Ära der Globalisierung einschränkt, als planstaatlicher Ausdruck einer „Kriegswirtschaft“, wie es in der FAZ und im „Spiegel“ heißt9. Brüssel will der Wirtschaft in außergewöhnlichen Krisenereignissen Befehle erteilen. Firmen müssten auf Anweisung Vorräte anlegen, die Fertigung umstellen, neue Produktionsanlagen aufbauen, Auskünfte geben und dergleichen mehr. Drüber hinaus will die Kommission die Rohstoffversorgung insbesondere der „seltenen Erden“ sichern, auch durch Recycling, und die Abhängigkeit von China reduzieren, in dem weltweit 90% der seltenen Erden und 60% des Lithiums geschürft werden.10 Aus Abfall sollen bis 2930 30% der Nachfrage nach Lithium und 20% nach Elementen seltener Erden befriedigt werden.11 Rohstoffsicherheit geht vor Effizienz. Garantiert werden soll sie wie nach 1914 und 1929 im Wege einer neuen Blockbildung. Im Wege, nicht sofort aber als starke Tendenz wie zu den analogen Zeitpunkten der fordistischen Innovationsoffensive nach 1914 und 1929. Dementsprechend fordert Arbeitgeberpräsident Dulger ein Rohstoffministerium12.

In der Reaktion auf Putins Politik der systematischen Gas- und Ölverknappung und der Beschädigung der Nordstream-Leitungen sind auf dem Gebiet der Energiepolitik die strategischen Linien eingeleitet, aber noch im Entwicklungsstadium. Das auch, weil das europäische Arrangement noch unsicher und die Sorge hinsichtlich der Wahlchancen groß ist. Klar ist, dass mit dem Kauf des Gasimporteurs Uniper die Absicht einer Umlage aufgegeben wurde. Auch, dass Extraprofite abgeschöpft werden sollen, da sind sich alle EU-Länder einig. Unklar ist: wie weit sollen Privathaushalte unterstützt werden, um sie nicht frieren zu lassen und auf der anderen Seite ihren Sparwillen nicht zu schmälern? Und welche? Jedenfalls gezielt und nicht nach dem Gießkannenprinzip. Wieweit sollen Unternehmen entlastet werden, um auf der einen Seite die insbesondere im Sinne des gewünschten Strukturwandels erhaltenswerten (keine offene Debatte bisher) zu unterstützen, aber auf der anderen ihre Transformation Richtung alternativer Energien und Produktionsformen zu fördern. Die dafür erforderlichen enormen Summen im Hunderte-Milliarden-Bereich sind gerade in die Diskussion geraten. Das findet alles auf dem Hintergrund der massiven nicht nur deutschen, sondern globalen Rezessionserwartungen für nächstes Jahr und der damit unsicheren finanziellen Ressourcen statt.

Was das Energiesparen der privaten Haushalte betrifft, so sind mir bislang nur die in Italien angestellten Überlegungen bekannt. Hier soll es Druck und Kontrollen nicht geben. Hilfe soll den 125 Mill. Haushalten in Form von Hinweisen auf Sparmöglichkeiten beim Duschen, bei Heizung, Licht, Wasch- und Geschirrspülmaschinen in der Erwartung von 55 Mrd. Kubikmetern Gaseinsparung gegeben werden. Die Kommunen sollen helfen, entsprechende Apps sind entwickelt.13

Schritte in eine neue Welt 

Letztlich getrieben von der IT-Innovationsoffensive sind all das Vorstöße auf dem irreversiblen Weg in eine neue postfordistische Welt. So, wie Krieg und Kriegsökonomie im letzten Jahrhundert als Mittel des globalen Durchbruchs in den Taylorismus/Fordismus eingesetzt wurden. Wir werden auf dem Hintergrund und mit Hilfe der historischen Analogien in den kommenden Beiträgen einen Blick in die Zukunft wagen und zur Diskussion stellen. 

1 D. Hartmann, Krisen, Kämpfe, Kriege, Band 2, Innovatorische Barbarei gegen soziale Revolution. Kapitalismus und Massengewalt im 20. Jahrhundert, Berlin, Hamburg (AssoziationA), im Folgenden KKK2, S. 57 ff.

2 S. den instruktiven Bericht „Kalte Dusche“ im Spiegel Nr. 36, S. 22, hier: S. 24. 

3 Bericht im kompetenten italienischen Wirtschaftsblatt „Il Sole 24 ORE“ (im Folgenden „Il Sole“) vom 16.9., S. 1,2. 

4 Vgl. dazu einordnend D. Hartmann KKK2, Resümee und Ausblick, S. 643 ff.

5 Vgl. „Der Volkszorn wächst in Osteuropa“, FAZ 6.9.22.

6 Detailliert aufgeschlüsselt und politökonomisch fundiert in D. Hartmann, J. Malamatinas, Krisenlabor Griechenland, Berlin, Hamburg (AssoziationA).

7 KKK2, Kap. 6, 8.4 

8 Il Sole 8.9.22, FAZ 13.9.22

9 FAZ vom 20.9.22, Spiegel Nr. 37 vom 10.9.22.

10 Ebd. und Il Sole 16.9.22.

11 Il Sole ebd.

12 FAZ vom 13.9.22

13 Il Sole vom 12. Und 19.9.22