Kriegstagebuch #4 – Der Krieg im Krieg

Kriegstagebuch #4 – Der Krieg im Krieg

Betritt das historische Gespenst einer globalen sozialen Revolution in postmoderner Gewandung wieder die geschichtliche Bühne?

von Detlef Hartmann

„…unsere Kinder, unsere Jungs werden von der Front zurückkehrenWir werden den Krieg gewinnen und unsere Jungs werden wiederkommen. Und dann werden wir Bauern dafür sorgen, dass alles funktioniert. Wir werden unserer Rechte und die Zukunft verteidigen. Wird das leicht sein? Ich glaube nicht. Die großen Feudalherren werden nicht kampflos verschwinden. Aber wir wissen, wie man kämpft.“ (Mykola Stryzhak, Interview vom 22.7.2022).

Dies ist ein analytischer Bericht über einen wichtigen Teil der Sozialprozesse unterhalb der Ebene der kriegerischen Ereignisse und der üblichen Darstellungen und Bezüge auch aus der linken Ecke. Er beschreibt den Kampf der Bäuer*innen aus ihren Familienwirtschaften gegen den Komplex von Agroindustrie, Landoligarchen, Regierung bzw. Verwaltung und EU und ihren aggressiven Methoden von land-grabbing bis agrotechnologischen Zugriffen im geschichtlichen und globalen Kontext. Diese Darstellung des sozialen Kriegs im militärischen soll helfen, den Blick für die Anforderungen an die metropolitanen sozialrevolutionären Initiativen schärfen. 

Das oben wiedergegebene Interview umreißt gut, worum es geht. Das Erstaunliche daran ist weniger der Optimismus und das Selbstbewusstsein aus einer sozialen Schicht, die in den letzten 100 Jahren gezielt und systematisch einer Politik von Gewalt und Demütigung unterworfen wurde. Es ist vielmehr die Klarheit, mit der im Krieg die soziale Ebene der Auseinandersetzung und der geschichtliche Hintergrund aufgerufen werden. In einer Zeit, in der die bürgerlichen und „linken“ Narrative ihre Zuflucht zu Vorstellungen von „Landraub (land-grabbing) und von „neoliberalen“ Strategien suchen, die mehr verhüllen als erklären, betont er den sozialen Krieg, den die neuen „Feudalherren“ der Oligarchen und Großgrundbesitzer in gleicher Weise wie die alten Feudalherren gegen die Bäuer*innen führen. Das ist die Erkenntnis eines „sozialen Kriegs im militärischen“. Und er beschwört die blutige, ja in Phasen völkermörderische Offensive eines Kapitalismus, in dem Millionen von Bäuer*innen und sicher auch eigene Vorfahren ermordet wurden, um die Modernisierung des kapitalistischen Regimes und damit die Steigerung der Produktivität durchgesetzt werden sollten (s. unten). Uns hilft Mykola Stryzhak, damit, die fragwürdige Rede von Ernährungssicherheit und –souveränität zu demaskieren und die barbarische und inzwischen blutige Realität der kohärenten weltweiten Zugriffe auf ihren materiellen Kern von sozialer schöpferischer Zerstörung zurückzuführen. Einer Politik des Doppelcharakters von Entwicklung und Vernichtung, wie er die Ära der fordistischen Durchbrüche geprägt hat. Jegliches Erstaunen jedoch über Bewusstsein und Einsichten aus einem bäuerlichen Kopf wäre verräterisch. Denn wie schon damals, so wird auch der heutige agrarwissenschaftliche Diskurs geprägt von Mythen einer bäuerlichen Rückständigkeit, die schon den fordistischen Aufbruch Anfang des 20. Jahrhunderts auf seiner Reise in den Völkermord bestimmt haben und jetzt erneut die deutsch hegemonisierte EU-Politik, wie Kathryn De Master vorbildlich und exemplarisch offengelegt hat. Werden wir diesmal von den Bäuer*innen und aus unserer mörderischen Geschichte lernen? Zunächst mal hieße das, sich von den ukrainischen und darüber hinaus auch von den afrikanischen, lateinamerikanischen Indigenen unter die lamentabel simple Ebene mitnehmen lassen, auf der die Linke sich daran beteiligt, einen gnadenlosen Transformationskrieg umzusetzen, in dem Putin und die EU/USA/Nato in antagonistischer Kooperation zusammenwirken.

Der Gang meiner Darstellungen wird seinen Ausgang in den aktuellen Strategien der ukrainischen Bäuer*innen nehmen, verbunden mit einem Überblick über die diskursiven Taktiken, mit denen Brüssel und die intellektuellen Handlanger die Brisanz der bäuerlichen Initiativen einhegen. Als nächstes folgt die Untersuchung der Strategien der EU in ihrem Drang nach Osten mit Ausblicken auf ihre Strategien in ihrem Drang ins Innere Afrikas im erneuten Griff nach dem im NS so genannten „afrikanischen Ergänzungsraum“. Im gleichen Zug behandele ich die vielfältigen Formen, in denen die ukrainische und im weiteren Sinne osteuropäische Regierungspolitik ihnen entgegenkommt, mit Ausblick auf die entsprechenden Formen in Afrika. Da heißt im Klartext, die Art und Weise, wie die Regierungen die „land-grabber“ ihre Entwicklungspolitik machen lassen. Der historische Rückbezug auf die blutigen fordistischen Entwicklungsstrategien als Hintergrund aktueller Analogien wird anschließend kurz umrissen, verbunden mit einem vergleichenden Blick auf die methodischen Voraussetzungen. Am Schluss steht ein Aufruf, in der Linken die aktuelle Stagnation zu durchbrechen im Versuch, diesem „Krieg im Krieg“ praktisch und theoretisch gerecht zu werden. Die Bereitschaft, sich in die Tanzübungen des inszenierten binären Gegeneinanders von Putin und EU-Verständnis einzubringen ist nicht einer etwaigen Dummheit geschuldet, sondern einer Schläue der naiven Simplifizierung. Wenn Putin sicher der Barbar ist, als der er gezeichnet wird, so gilt dies nicht weniger für die zivilisatorische Barbarei in den hiesigen Diskursen, die in ebenso schaler wie bösartiger Langweiligkeit die historischen Muster vergangener Epochen mörderischen Progressismus wiederholt. Die linke Begeisterung 1870 über den deutsch-französischen Krieg und den Überfall von 1914 schicken uns makabre Grüße aus der Geschichte. Allerdings tut mir Peter Nowak zu viel Ehre an, wenn er meinen Vergleich der kriegstreiberischen Sozialdemokratie von 1914 mit den heutigen grünen progressistischen Kriegstreibereien als Erkenntnis lobt, die den grünen Krieg in kühner Prognose schon 2016 vorwegzeichnete. Das war gar nicht so kühn, der Vergleich drängte sich einfach auf. Denn Großzyklen ähneln einander in wesentlichen Merkmalen. Ihre Barbareien werden von innovativen Avantgarden betrieben. Die damalige SPD und die heutigen Grünen nehmen ähnliche Elitefunktionen in Anspruch. 

Oligarchen, Bäuer*innen, Regierungen

Als die russischen und ukrainischen Oligarchen (Gendern wäre fehl am Platz, denn es gibt nur wenige *innen, wie etwa die oligarchische Politikerin Timoschenko) sich an ihr gierig schändliches Geschäft machten, hatten sie schon eine längere spätstalinistische Geschichte hinter sich.1 Denn ihre Expertise und Erfahrungen als Voraussetzung für einen lukrativen Zugriff im Rahmen der Schocktherapie unter Jelzin haben sie in industriellen, landwirtschaftlichen und finanztechnischen Zusammenhängen der Sowjetunion gewonnen. Die letzte Etappe in der Entwicklung der Landwirtschaft hatte allerdings einen gewaltträchtigen Ausgangspunkt. Das war das Patt im fundamentalen über zehnjährigen Krieg der Bolschewiki gegen die revolutionären Bäuer*innen, das nach einer völkermörderischen Zuspitzung im ukrainischen „Holodomor“ (Hungermord) des Jahres 1932 erreicht war2. Noch mörderischer als in der Ukraine wurde er gegen die nomadisch lebende Bevölkerung Kasachstans geführt, das schockartig in eine Gesellschaft auf der Basis industrialisierter Landwirtschaft verwandelt werden sollte. In ihm wurde ein schon unter Lenin im Rahmen und unter dem Deckmantel des Bürgerkriegs entfesselter Angriff3 gegen das revolutionäre Dorf und seine egalitäre, eigentumslose „moralische Ökonomie“4 auf die Spitze getrieben. Als Gewaltkern einer epochal angelegten Offensive tayloristisch/fordistischer und damit kapitalistischer Umwälzung (dazu grundsätzlich unten). Es ist wichtig, dies zu wissen, denn wir können den „Krieg im Krieg“ unserer Tage ohne diesen Hintergrund nicht verstehen.

Der letzte genozidale Akt diente der endgültigen Durchsetzung der industrialisierten Landwirtschaft in Gestalt der Kolchose (die ebenfalls verwendete Konstruktion der „Sowchose“ – Agrounternehmen im Staatsbesitz mit lohnabhängigen Arbeiter*innen – hatte keine große Rolle gespielt). Der latifundienartige Boden der Kolchosen wurde, soweit möglich in Anwendung tayloristischer Rationalisierungsprinzipien als Agroindustrie unter maschinellem Einsatz vor allem von zunächst importierten Traktoren betrieben. Das mit den „Maschinen-Traktorstationen“ (MTS) vom ZK aufgepfropfte Management war maßgeblich eingesetzt worden, um Bäuer*innen zu befehligen, zu kontrollieren und zu indoktrinieren, mit mehr als mäßigem Erfolg. Sie erhielten nur geringe Bezahlung, dafür aber wie unter den alten Grundbesitzern Prügel und mussten darüber hinaus wie unter dem Zaren unbezahlte Frondienste („Corvée“) leisten. Sie durften das Dorf unter einem Passsystem zaristischer Herkunft grundsätzlich nicht und wenn, dann nur mit Erlaubnis verlassen. Ihrem Unterhalt und dem der Kinder, Alten und Schwachen dienten ihnen zugewiesenen Landstreifen, wir nennen sie, postmodernem Sprachgebrauch folgend, auch „plots“. Die Bäuer*innen galten als „innere Kolonie“. Das bei Leistungsverweigerung und Zuwiderhandlungen gegen sie gerichtete Bedrohungsszenario reichte von unmittelbarer Gewalt bis zum „Gulag“. 

Auf der anderen Seite waren die Bäuer*innen auch nicht wehrlos. Ihre Kampfformen reichten von „Dienst nach Vorschrift“, Sabotage bis hin zur Tötung von Gewalttätern, wie etwa im Rahmen der Stachanow-Kampagne. Gegenüber der nachlassenden Produktivität der Agroindustrie mussten die „plots“ zunehmend für die Versorgung der ganzen Sowjetunion herhalten. Im Jahre 1938 lieferten sie schon 45% der gesamten Agrarproduktion. Nach unterschiedlicher Höhe unter Chruschtschow und Breschnew, stieg diese Zahl bis zur aktuellen Vorkriegszeit (je nach Berücksichtigung der Einzelposten) auf etwa sie Hälfte des agrarischen Gesamtprodukts an. Die Zahlen für das Verhältnis der beiden Sektoren sprechen für sich: das Agrobusiness kontrolliert ca. 55% des bewirtschafteten Bodens und produziert ebenfalls die Hälfte der landwirtschaftlich produzierten Güter, während ländliche Haushalte 41,5% agrarischer Produkte herstellen, dagegen aber nur (regional unterschiedlich) 15 – 30% des Landes kultivieren. Sie liefern derzeit 99% der Kartoffeln, 89% des Gemüses, 78% der Milch, 74% des Rind- und 35% des Schweinefleischs. In sozialer Hinsicht reicht die Produktionsstruktur von Bauernfamilien auf den „plots“ um die Häuser herum. die Überschüsse über ihren eigenen Verbrauch, also ihre „Subsistenz“, auf den Markt bringen bis zu ähnlich operierenden, aber etwas größeren Familienbauereien und einigen darüber hinaus gehenden Betriebsgrößen. Familienbauereien zählen heute 48,6 Tausend bei 2,5 Millionen ländlicher Haushalte.5 Unter Stalin, lange Zeit auch noch unter Chruschtschow wurden die Dörfer abgeschottet und unter dem beschriebenen strikten Kommando gehalten. Chruschtschows Landreform erlaubte den Kolchosen und weiterhin relativ unbedeutenden Sowchosen, die Hoflandgröße und den Viehbestand selbst zu bestimmen, was das entgegenwirkende Machtgewicht der „plots“ erhöhte. Hier setzte sich die Entwicklung einer Feminisierung der Produktion, die im Weltkrieg angefangen hatte, weiter fort und bestimmt auch heute noch die Produktion auf der untersten Ebene. Unter Breschnew wurde die Anbindung der Familienwirtschaften an den Markt weiter forciert, ebenso wie der schon zuvor begonnene Exodus der Heranwachsenden in die Städte, während die Jugendlichen mit den Frauen, Rentner*innen, Behinderten, chronisch Kranken in den Dörfern zurückblieben.6

Das sozialpolitische Problem der sowjetischen Führung war die soziale Blockierung des Prozesses kapitalistischer techno/ökonomischer Modernisierung (zur Frage der Einschätzung des Realsozialismus als kapitalistische Etappe in Russland s. u.), die bis heute andauert. Über die gesamte Zeit des sowjetischen kapitalistischen Realsozialismus hinweg verbanden die Bäuer*innen ihren antikapitalistischen Egalitarismus mit einer strikten Ablehnung des Eigentums am Boden – zugleich die Basis der Ablehnung des Privateigentums an den Produktionsmitteln. Eine Politik der technologisch/ökonomischen Mobilisierung des kapitalistischen Zugriffs war gegen sie nicht durchzusetzen. Sie bestimmt, wie wir unten sehen werden, auch heute noch die Konfrontation gegen die viel subtileren Strategien der europäischen Union über das Vehikel einer Politik der Nahrungssouveränität. Gegen diese soziale Blockade richtete sich die unter Jelzin eingeleitete brutale Schockpolitik. Er importierte den Propagandisten einer kapitalistischen „schöpferischen Zerstörung“ Jeffrey Sachs und übertrug ihm die Aufgabe Industrie und Landwirtschaft dem Diktat neu geschaffener Eigentumspositionen zu unterwerfen. Über das Mittel von Anteilsscheinen („shares“) wurde Land, Industrie-, und auch Finanzunternehmen auf die Straße geworfen, wo die Experten nur darauf warteten, sie praktisch für Appel und Ei einzusammeln. Damit entstand die neue Schicht von „Oligarchen“, die neuen Träger eines gegenüber den raffinierten Formen des Westens sehr rohen kapitalistischen Kommandos. Zusammen mit schon investierten ausländischen Unternehmen kontrollieren sie7 große Teile der ukrainischen Ressourcen und stellen den Kern von 10% der reichsten Ukrainer*innen, die inzwischen etwa 60% des unkrainischen Reichtums halten.8 Die strategieleitenden Vorstellungen „schöpferischer Zerstörung“ war zwar in Russland neu, in den USA gehörte sie seit der Förderung der IT-Offensive durch die amerikanische Zentralbank zur Leitvorstellung der Innovationsoffensive.9 Auch auf dem landwirtschaftlichen Sektor stand diese Leitvorstellung im Zentrum.10 Es wäre eine Verkürzung, wenn man mit der üblichen Diktion dies als Verfolgung von „Marktstrategien“ ansehen würde. Die „creative destruction“ der „shock therapy“ stellte wie schon in seinem Ausgangspunkt der USA ein umfassendes sozialstrategisches Manöver, sowie es Mykola Stryzhak ja auch verstanden hat. Die Ersetzung des alten Kommandos der alten Feudalherren durch das postfordistische Kommando der Oligarchen. Mit ihm konfrontieren sich, ähnlich wie in anderen Teilen der Welt, die noch nicht erloschenen sozialrevolutionären Impulse aus der bäuerlichen Familienwirtschaft in der Ukraine. 

Die Linien der Auseinandersetzung zwischen den Kräften bäuerlicher Selbstorganisation und dem Kommando aus Oligarchen, „land-grabbern“ und EU-Politik.

Die Geschichte zwischen Auseinandersetzung zwischen Familienökonomie und ihren Leitvorstellungen einer egalitären und kommunitären „moralischen Ökonomie“11 kann uns helfen, die Politik einer neuen kapitalistischen Intelligenz auf agrarwissenschaftlichem Gebiet zur Verwirklichung der aktuellen kapitalistischen Offensive einzuordnen und besser zu verstehen. Denn die Bäuer*innen erlebten Staat und Agrarpolitik als einen gegen sie gerichteten sozialen Krieg zur Durchsetzung fordistischer Organisationsprinzipien. Einen Krieg, der geprägt war von Gewaltstrategien im technologischen Gewand, Demütigungen, die sie als „Parasiten“, „Vieh“, „Schweine“ und nicht menschliche Wesen zeichnete, wie Lew Kopelev dies nach dem Krieg reuig eingestand, als auf unterster Stufe stehende Existenzen, und der damit Massengewalt bis zum Völkermord rechtfertigte. Dieser Krieg und die damit verbundenen Einstellungen, wie wir gesehen haben, stellte ein Kontinuum mit wechselnden Einkleidungen bis in die Jahre der „Perestroika“ hinein dar. Mehr noch: er parallelisierte sich aufgrund gemeinsamer tragender Strategielinien der fordistischen Innovationsoffensive in markanten Punkten mit dem allerdings weit überschießend gewaltsamen Nationalsozialismus. Eltern und Großeltern haben diese Geschichten in ihren Familien weitergereicht und die familienökonomischen Charakteristika des Dorfs haben die alten moralisch-ökonomischen Grundvorstellungen bis in die Jetztzeit transportiert. Die Frage, wie stark und wir prägend dies war, wäre eine Aufgabe von Nachforschungen. Erloschen sind sie jedoch keineswegs, wie charakteristische Anzeichen es ausweisen. Die Geschichte der rationalisierenden Feindseligkeit von oben erklärt den Hass auf die Oligarchen als neue „Feudalherren“ und darum auch auf eine sie schützende Regierungspolitik auf nationaler und EU-Ebene. 

All dies demaskiert das ideologische Marschgepäck der postfordistischen Formation von Agrarspezialisten, die, wie wir unten zeigen werden, die Einstellungen der zaristischen und später im Dienst des Leninismus operierenden zaristischen Agrarspezialisten wie Chajanow, Kondratiew, Jasny mit ihrem Bild der Bäuer*innen als „dunkle Massen“ in neuer Gewandung wieder auferstehen lässt. Denn auch die Betreiber von EU-Strategien zeichnen die osteuropäischen Bäuer*innen als rückständig und entwicklungsbedürftig, jedenfalls nicht als die Subjekte, als die sie sich in den aktuellen Auseinandersetzungen erweisen. Was die Regierungs- und oberste Verwaltungsebenen anlangt, so werden die Bäuer*innen sogar ihre alten Feinde persönlich wiedererkannt haben, die offen und unverschämt die industrielle Landwirtschaft bis heute zu Lasten der weitgehend vernachlässigten Bäuer*innen unterstützt haben.12

Der Leitbegriff, unter dem die neue Avantgarde von Agroökonomen die Bäuer*innen in die kapitalistische Verwertung einzubringen trachtet, lautet „Food sovereignty“. Verstanden wird darunter eine komplexe Strategie der Zerstörung tradierter familienökonomischer Arbeits- und Lebensformen mit dem Ziel ihrer Subsumtion unter ein postmodernes kapitalistisches Kommando. Sie operiert weltweit von der Ukraine, Ostpolen, Rumänien über den Maghreb und den Nahen Osten bis nach Afrika, Lateinamerika und Asien. Die Formen ihres dortigen Einsatzes sollen unten kurz berührt werden, geht es doch hier um ihren Einsatz im Ukraine-Krieg. Gemeint ist natürlich nicht Autonomie und Souveränität der Familienbetriebe. Sie erscheinen im argumentativen Kontext entsubjektiviert und neutralisiert als „localised food sytems“, örtlich lokalisierte Ernährungssysteme. Für diesen Begriff wird Bezug genommen auf die Konferenz zur Beendigung des „land-grabbing“ in Nyeleni in Mali vom 17. Bis 19. November 2011. Aufgrund dessen wurde der Begriff definiert unter Bezugnahme auf die Rechte kleiner Nahrungsmittellieferanten auf natürliche Ressourcen. Diese Verrechtlichung durch die beteiligten NGOs stellt bei aller antikapitalistischen und antineoliberalistischen Rhetorik ein Vehikel zur Einkreisung des politischen Charakters dar, – die eigentliche Funktion von „Verrechtlichung“.13 Um den Zugang zu den Familienbetrieben ideologisch zu sicher, spricht Mamonova von einer „Koexistenz der großen Agrounternehmen mit kleinen Farmen“. Ihre Nützlichkeit wird in ihrer enormen Elastizität („resilience“) gesehen, die sich sehr viel schneller als große Agrounternehmen anpassen können. Diese Anpassungsfähigkeit und Elastizität bis hin zur Hungergrenze hat schon die nationalsozialistische Agrarwissenschaft im Auge gehabt und fasziniert.14 Auch ihre umweltschonenden und nachhaltigen Produktionsformen, die auch die ostpolnischen Bäuer*innen den EU-Agrarspezialisten entgegenhalten, werden als Vorteile von den neuen Agrarwissenschaftler*innen ins Feld geführt.15 Die Agrarwissenschaftlerin Olena Borodina ergänzt diese Darstellungen durch eine Initiative auf der institutionellen Ebene mit der Herstellung eines „ukrainischen ländlichen Entwicklungsnetzwerks“ (RURDN) zur Förderung einer food sovereignty als Teil einer nationalen Arbeitsgruppe im Rahmen des offiziellen ukrainischen Erholungs- und Entwicklungsplans unter Betonung von Resilienz und Nachhaltigkeit in harten Zeiten. Sie verzichtete sogar auf den Begriff „food soveregnty“, es könne Regierung und Gesellschaft als zu revolutionär erschrecken. Es nützte alles nichts. Die Regierung wollte nicht hören.16 Regelrecht fragwürdig war in Anbetracht der Geschichte der Versuch, einen „Patriotismus“ der Kleinbäuer*innen aufspüren zu wollen. Dies im Anschluss an die patriotischen Aufwallungen im Euromaidan und dem anschließenden geopolitischen Konflikt mit Russland. Er wird in den Zusammenhang eines wachsenden Patriotismus der Bevölkerung (laut Umfragen 31% im Jahre 2010 auf 73,3% im Jahre 2016) gestellt, der sich in der Wiederentdeckung nationaler Traditionen und einer Popularisierung von Volks(bauern-)kultur (Essen, Kleidung etc.), inszeniert auf Bauernjahrmärkten.17 Die Fragwürdigkeit beruht darauf, dass die Wut der Bäuer*innen auf die russischen Angreifer*innen mit Patriotismus verwechselt wird. In der ukrainischen Geschichte als Teil der russischen war Patriotismus immer die Sache der Eliten, vor allem der tragenden Mittelschichten und ihrer faschistischen Bestandteile. Bis in die neueste Zeit betrachteten sich die ukrainischen Bäuer*innen als Teil eines bäuerlichen Kontinuums und waren für den bürgerlichen Patriotismus wenig zugänglich. Es ist vielfach festgestellt worden, dass große Teile der ukrainischen Bevölkerung eine spezifische ukrainische Identität nicht hegten. Vielmehr erscheint der um sich greifende Nationalismus als Ausdruck des Betriebs des Kriegs durch die führenden ukrainischen Schichten. Das gilt besonders für die familienbäuerliche Ebene. In der Bauernrevolution von 191718 und die von ihr ausgehende jahrzehntelange Konfliktualität zwischen bolschewistischen Herren und bäuerlichen Revolutionären sah ein komplementäres Nebeneinander, besser, miteinander gewaltiger Bewegungen sowohl in den ukrainisch sprachigen, als auch in den russischen sprachigen Landesteilen. Hier verstanden sich die Bäuer*innen als Brüder und Schwestern in kaum unterschiedenen Arbeits- und Lebensformen. Dies mochte sich unter dem Eindruck brutaler stalinistischer Nationalitätenpolitik etwas verändern, aber nicht wesentlich. Sie verstanden sich noch immer gegenseitig als Ausdruck ähnlicher Lebensformen. 

Mit der Agrarpolitik nach der Perestroika gingen die ukrainischen Bäuer*innen wie schon die letzten hunderte Jahre als selbstverständlich davon aus, dass es kein Privateigentum an Grund und Boden geben dürfe. Das ist einer der Gründe für die zunächst zurückhaltende Reaktion auf die Schocktherapie „schöpferischer Zerstörung“. Ihre Techniken, Anteilsscheine an Grund und Boden auf den Markt zu werfen, wo sie von Oligarchen aufgesammelt und in spezifischen Verfahren in reales Eigentum verwandelt wurden, wurden als feindliche Operation von Grundherren und Staat begriffen. Und mit zunehmender Feindseligkeit beobachtet. 

Daher erließ die Regierung 2001 ein Moratorium, das die weitere Privatisierung stoppte und den Transfer fast allen in Privateigentum stehenden Lands verhinderte. Das Moratorium galt für 96% bewirtschaftbaren Lands, insgesamt ca. 40 Millionen Hektar. Während jedoch Käufe unterbunden wurden, durfte Land verpachtet werden, was viele kleine Bäuer*innen taten und von den Investoren als Einstieg genutzt wurde. Allerdings war der Druck aus dem IWF und der Europäischen Entwicklungsbank (European Bank for Reconstruction and Development, EBRD), bei der Staat und viele Oligarchen und Investoren verschuldet waren, groß, die Privatisierung und Herstellung eines Grundstücksmarkts voranzubringen. Der IWF machte die Beendigung des Moratoriums sogar zur Bedingung für einen 8 Mrd. $ Kredit.

Das Vorhaben der Beendigung des Moratoriums traf auf eine starke Opposition aus der Bevölkerung, vor allem der Bäuer*innen. Dies zeigte sich in vielen, auch militanten Demonstrationen. Im Dezember 2019 wurde ein Bauer in Auseinandersetzungen mit der Polizei getötet, bei weiteren Demonstration mehrere verletzt.19 2020 wurden die Anordnungen im Rahmen der Covid-Maßnahmen zu einem Gesetz zur Aufhebung des Moratoriums genutzt. Aufgrund des erbitterten Widerstands wurden Zugeständnisse eingebaut. Die volle Herstellung des Grundstücksmarktes sollte in einzelnen Stadien erfolgen. Das erste ab Juli 2021 sah die Einschränkung vor, nach der ein Individuum – keine juristische Person – Boden bis 100 Hektar kaufen durfte. Ab 2024 soll der Erwerb von bis zu 10 000 Hektar sowohl für Individuen und juristische Personen möglich werden. Nach Beginn des Kriegs im Februar 2022 wurden einige Tricks zur Umgehung ausgeschlossen.20 Die Kontroverse ist noch immer in Bewegung und die kämpferischen Bäuer*innen werden nicht ruhen, zumal ihre Bedeutung mit dem Krieg gewachsen ist.

In ihrem Widerstand handelten die Bäuer*innen noch immer aus einer Lebenspraxis, die ihre Stärke aus Zusammenarbeit und kollektiver Aktion bezog und von der Agrowissenschaft als konservativ und passiv etikettiert wurde.21 Allerdings wird die Zurückhaltung zu Recht auch auf die offen sichtbare Zusammenarbeit zwischen Staat und Landgrabbern/agrifeudalen Unternhmen zurückgeführt und deren feindselige Politik sowie schließlich die Erfahrungen mit der blutigen staatlichen Gewalt in nicht allzu ferner Vergangenheit. Gleichwohl werden in der Zeit bis zum Ukrainekrieg verschiedene Protestformen und –gründe registriert, denen in Anbetracht des feindlichen Umfelds eine beträchtliche Bedeutung zukommt. Z.B. kollektive Proteste gegen illegale Käufe von Agrobusiness-Unternehmen und oligarchischen Personen, vor allem ihren betrügerischen Manövern und gegen die Willkür und Gesetzlosigkeit von Verwaltungs- bzw. Regierungsstellen (z.B. eine Straßenblockade im Juni 2009 in der Nähe des Staatskomitees für Landressourcen in Kiew gegen die Korruption ihres Leiters mit dem Ergebnis seines Rücktritts). Oder eine Massenmobilisierung gegen das Grabbing von Land historischer Bedeutung. Oder Demonstrationen und Blockaden von Bulldozern gegen das Verscherbeln von bewirtschafteten Landstreifen in Kharkivs Gorky Park unter Beteiligung von hunderten Personen.22 All das gewann mit dem Ukrainekrieg ein neues und viel schärferes Profil. Trotz der grundsätzlichen mit dem russischen Überfall verbundenen Probleme auf der Investitionsgüterseite (Dünger, Saatgut und Treibstoff), trotz Bombardierungen und Minen konnten die Ernten gehalten werden. Viele Betriebe, die zuvor Weizen, Sonnenblumen, Öl und Mais für den Export produziert hatten, wechselten zu Buchweizen, Erbsen, Gerste und Gemüse für den ukrainischen Markt. Immerhin jedoch mussten beispielsweise in der Kherson-Region 60% der Agro-Unternehmen aller Produktionsebenen ihre Aktivitäten einstellen. 

Hier jetzt erwies sich die Elastizität der „kleinen Produzenten“. Olena Borodina aus der nationalen Wissenschaftsakademie der Ukraine erklärte: „Das Modell der großen Agro-Fabriken ist zusammengebrochen wie ein Koloss mit tönernen Füssen“.23 Vitali Dankevych erklärt dazu: „Kleine Bauern versuchen, jedes Landstück zu bebauen, auch wenn sie es vorher nicht bebaut haben. Sie bauen alles an, was sie und ihre Familien im kommenden Winter ernähren kann, der ein schwieriger Winter sein wird.“ Mamonova führt dazu aus: „Kleine Landwirtschaft als Überlebensstrategiewird von verschiedenen sozioökonomischen Gruppen sowohl im ländlichen als auch im städtischen Bereich praktiziert. So pflegte Tetiana Shuliarenko als Krankenschwester im Mutterschaftskrankenhaus von Zhytomyr zu arbeiten, bevor es vom russischen Bombardement teilweise zerstört wurde, dass auf ein Verwaltungsgebäude in der Nähe gerichtet war. Als der Krieg begann, zog ihre Familie in ihre Datscha außerhalb der Stadt um: „Jetzt bauen beinahe alle etwas auf Land in der Nähe ihrer Häuser und Datschas an. Kartoffeln, Karotten, Rote Beete. Leute müssen sich auf eigene Füße stellen…. Nur um zu überleben. Nach und nach wurde der Krieg mit all den Bomben die neue Norm. Lebensmittelpreise steigen wie verrückt… So haben wir fünf kleine Hühner gekauft. Es war Papas Idee. Mein Bruder machte den Schuppen leer, in dem unsere Großeltern Hühner gehalten haben. Nun haben wir da unsere Hühner“. 

Diese Formen landwirtschaftlicher Produktion werden von der Regierung unterstützt, um Nahrungsmittelknappheit und Preissteigerungen zu begegnen. Unter Bezug auf amerikanische Modelle im ersten Weltkrieg werden „Siegesgärten“ („victory gardens“) propagiert und gefördert. Momonova und Borodina stellen fest, dass Familienwirtschaften frag- und kommentarlos “Wohltätigkeitsarbeit“ leisten und Nahrungsmittel weggeben, die für ihre Familien gedacht waren. Das passt zu einer Geschichte, die eine ukrainische Freundin mir von einer zu ihrer Verwandtschaft zählenden Frau berichtet hat, die auf dem Weg war, etwas ins Nachbardorf zu bringen, denn „… vielleicht würde es dort gebraucht“. Familienwirtschaften, in Dörfern oder nicht, nehmen Binnenflüchtlinge auf und integrieren sie in ihre Zusammenhänge. Viele solche Vorgänge spielen sich auf der Gemeinschafts- bzw. Dorfebene ab, ohne von der Regierung angestoßen oder unterstützt zu werden. Laut Borodina unterstützen Familienbetriebe und „smallholders“ ihr Land mit Leuten, die dem Krieg entkommen sind. Zum Beispiel kam eine junge Frau aus der Melitopol-Region in den Transkarpaten unter. Sie bekam einen kleinen Landstreifen von örtlichen Bauern zur Bewirtschaftung und machte einen Kaninchenhof auf. Sie will erst nach der Befreiung nach Melitopol zurück. 

Den von der nationalen Agrowissenschaft und international verliehenen Held*innenstatus weisen die Bäuer*innen zurück. Sie täten nur ihre Arbeit und lehnten es ab, dafür gelobt zu werden. Der Patriotismus, den Agrarwissenschaftler*innen wie Momonova entdeckt haben wollen, äußere sich ihnen zufolge nicht in einem patriotischen Diskurs oder Slogans. Er sei ein alltäglicher, profaner („mundane“) Patriotismus, der sich in Taten und nicht in Worten äußere. Ihre heroischen Taten, stellt Momonova fest, werden von vielen in der Ukraine anerkannt, die von Bäuer*innen als „Kriegshelden“ sprechen. Vielleicht, weil Familienwirtschaften und ländliche Haushalte Nahrungsmittel an ukrainische Soldaten an der Front und Binnenflüchtlinge schicken, die Zuflucht in der Westukraine gefunden haben. Dies ist so sehr in Übereinstimmun mit dem Verhalten der russischen Bäuer*innen im ersten Weltkrieg, dass man versucht wäre, ein Fortleben der damals handlungsleitenden moralischen Ökonomie des Dorfes festzustellen. Aber man müsste dies zum Ausgangspunkt für Überlegungen und Nachforschungen machen, wie diese moralische Ökonomie in einem Transformationsprozess die aktuellen Grundlagen bäuerlichen Verhaltens erreicht hat. Mit Sicherheit hat sie aufgrund der enormen Feindseligkeit zwischen Dorf und stalinistischer und spätstalinistischer Gewalt die späten 60er Jahre und frühen 70er Jahre beeinflusst. Aber sie ist eine den historischen sozialen Veränderungen innewohnende Größe und damit auch von diesem Veränderungsprozess beeinflusst. Die Feindseligkeit zwischen den familienwirtschaftlichen Zusammenhängen und den oligarchischen und staatlichen Betreibern des agroindustriellen Komplexes dauert allerdings bis heute fort und prägt mit Sicherheit auch das moralisch-ökonomische Selbstbewusstsein der heutigen ukrainischen Bäuer*innen. 

Denn der grundsätzliche Gegensatz zu den stalinistisch initiierten Agroindustrien und oligarchischem Kommando, das auch ganz offiziell das Verwaltungs- bzw. Regierungshandeln bestimmt, prägt auch die aktuellen gesellschaftlichen Auseinandersetzungen im Krieg. Die Kritik und Feindseligkeit der Bäuer*innen und „smallholders“ wächst. „Wir mögen sie nicht und sie mögen uns nicht. Es gibt zwei Agrogroßbetriebe in der Nähe, die ihre Felder mit Chemie gerade neben unseren Häusern überschwemmen. Es ist klar, dass wir mit ihnen keine Freundschaft hegen. Aber momentan suchen wir nicht den Konflikt mit ihnen, weil wir haben absolut keine Zeit dafür. Und wir verstehen, dass sie auch eine wichtige soziale Funktion ausüben, jetzt, wo sie Nahrungsmittel produzieren.,“ heißt es in einem Interview. 

Auch die Feindschaft und das Misstrauen von Regierungs- und Oligarchenseite, die in guter alter Tradition Familienwirtschaften noch immer für rückständig halten, dauert fort. Denn große Agrobetriebe erhalten noch immer staatliche Unterstützung, den Familienbetrieben völlig verweigert wird. Die Bäuer*innen, die finanzielle Unterstützung vom Staat wollen, müssen durch unzählige bürokratische Prozeduren und exzessiver Papierarbeit durch mit oft unbedeutenden Ergebnissen. Mykola Stryzhak beklagt sich, dass die Banken von oben die Anweisung erhielten, keine Kredite an unzuverlässige Bauern zu geben. Unzuverlässige Bauern seien die mit weniger als 50 ha. Momonova verweist ausdrücklich auf die schon erwähnte Studie von Kathryn De Master über das Verhältnis der ostpolnischen Familienwirtschaften zu den EU- und polnischen Agrostrategien. Die Bäuer*innen werden, ebenso wie in der Ukraine, als „rückständig“ und „laggards“ (faule Nachzügler) behandelt, ganz im Kontrast zu den sogenannten Professionellen und Experten der EU. Dem setzten die Bäuer*innen ihre Widerständigkeit im Bewusstsein und der Stärkung der überkommenen bäuerlichen Lebensweise und Praktiken entgegen. „Wirkonnten dem Kommunismus widerstehen, wir werden auch Brüssel widerstehen.“ 24

Auf dem Hintergrund der mir bekannten Berichte und Bilder erscheint ein Gender-Gefälle ziemlich markant. Wenn von Familienwirtschaft die Rede war, so ist die unterste Ebene geprägt von Frauenarbeit. Kühe, Hühner, Kaninchen sind offenbar Sache älterer Frauen, dabei sind auch einige Männer tätig. Ältere Frauen und ältere Ehepaare sind es, weil die Jungen ab- und in die Stadt gewandert sind. Die Verhältnisse in der Ukraine sind nicht ganz so krass wie in Russland, aber doch immerhin eindeutig. Das Bild jedoch einer Feminisierung der bäuerlichen armen Schichten in der Ukraine entspricht nicht den Vorstellungen passiver Opfer, die hierzulande mit der Vorstellung einer Feminisierung der Armut verbunden werden. Vielmehr agieren die Bäuerinnen im ausgesprochenen Selbstbewusstsein ihrer Rolle, Fähigkeiten und ihres moralischen Gewichts. Mir sind persönlich keine Arbeiten zu den Genderstrukturen der „Familienwirtschaft“ bekannt, aber das muss nichts heißen.

Zugriff aus der EU 

Im Kriegstagebuch#1 haben wir berichtet, dass die EU durch ihr Kriegsengagement ihre Erweiterung vorantreibt und durch ihren Außenminister Borrell den Krieg zur „geopolitischen Geburtsstunde“ Europas, Europa also zum Ausgangsterritorium und Kraftkern einer Bemächtigungsstrategie im globalen Maßstab erklärt hat. So, wie der NS seine Geopolitik betrieben hat. Sechs der größten landbesitzenden Firmen haben sich über die vergangenen 15 Jahre bei europäischen Banken, namentlich der EBRD, der EIB (Europäische Investitionsbank) und der IFC (International Finance Corporation) mit 1,7 Mrd. Dollar verschuldet25, ein enormer Machthebel. Sie betreiben mit IWF und Weltbank die Privatisierung und strukturelle Anpassung auf dem ukrainischen Agrarsektor. Es ist zu erwarten, dass die EU unter Federführung Deutschlands auch in die agrarischen Sozialstrukturen der Ukraine zu greifen sucht, nach dem Muster, wie sie das schon in Polen getan hat, in Erweiterung ihrer Sozialstrategien also. In der verächtlichen Herabsetzung der bäuerlichen Familienwirtschaft vor allem Ostpolens als zurückgeblieben und träge wird über die mit Vorteilen verbundene Zertifizierung eine ökologische Förderung betrieben, die über Marktorientierung hinausgeht. Effizienz und Sauberkeit werden als leitende Maßstäbe einer neuen „Modernität“ verlangt.26 Es bedürfte einer genauen Analyse der faktisch mit Vorteilen verbundenen Bedingungen, um die Formen und Ziele der sozialen Einwirkung darzustellen, die mir jedoch nicht bekannt ist. 

Einkreisung moralisch-ökonomischer Selbstbehauptung

In der Ukraine gebe es eine Bewegung der Bäuer*innen in Familienwirtschaften für ‘food sovereignty (Nahrungsmittelsouveränität bzw -selbstbestimmung)‘ ohne ein Konzept der food sovereignty, ja sogar ohne ein entsprechendes Bewusstsein, schreibt Natalia Mamonova.27 Das mag gut sein. Denn in Verbindung mit der Vorstellung einer höheren Elastizität und Nachhaltigkeit der Produktion in kritischen, z.B. Kriegszeiten beschränkt sich das Verständnis auf den Nutzen der Produktions- und Lebensformen. Es verkürzt und beschneidet diese damit um die moralische Ökonomie, um ihre Potentiale von Kampf, Widerstand, Revolution und für eine bessere Welt der Gemeinschaft und des Miteinander. Und das weltweit. Denn auf allen Kontinenten leben und handeln Menschen aus einem ähnlichen moralisch-ökonomischen Verständnis heraus, in afrikanischen, lateinamerikanischen, zapatistischen indigenen Dörfern und Familienwirtschaften. Und in all diesen Regionen sind die Agenten der food sovereignty an ihrem Werk der Unterwerfung der Bäuer*innen unter das kapitalistische Kommando. Sie ähneln darin den Agrospezialisten vom Schlage Chajanows und Kondratiews, die sich in Russland vor dem Ersten Weltkrieg ans Studium der „dunklen bäuerlichen Massen“ machten, um im Dienste des Zaren und später der leninistischen Sowjetunion die Kräfte der moralischen Ökonomie zwecks besserer Verwertung zu brechen.

Der Griff der EU in den afrikanischen „Ergänzungsraum“

Ebenso wie im NS greift ein deutsch hegemonisiertes Europa nicht nur in den östlichen, sondern auch in den „afrikanischen Ergänzungsraum“, wie es damals hieß. 29 seiner Banken, Versicherungen und sonstigen Finanzinstitutionen (darunter Deutsche Bank, Allianz, BNP Paribas, AXA, Credit Agricole) waren involviert in die direkte und indirekte Finanzierung von land-grabbing und den entsprechenden Druck auf die Regierungen. Der oft nicht einmal nötig war, denn diese nutzten das grabbing nicht nur ökonomisch, sondern auch zur Zerstörung der resistenten bäuerlichen Familienwirtschaft. Überall in der Vorstellung ihrer Rückständigkeit und überall wie schon vor fast hundert Jahren konfrontiert mit Widerstand.28

Wird der Widerstand, werden die Bewegungen weltweit zusammenfinden, um einen neuen sozialrevolutionären Zyklus einzuleiten, wie schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts29? Das lässt noch auf sich warten. Denn es hat den Anschein, als ob es selbst in Afrika mit seinen vielen Konflikten allenfalls zu einer gegenseitigen Kenntnisnahme reicht. Allerdings scheinen vor allem die Zapatisten übergreifende Kenntnis und Praxisansätze zu zeigen und könnten damit andere Bewegungen nach sich ziehen. In Europa wäre es an uns Linken, den Widerstand der Ukrainischen Bäuer*innen zu unterstützen und damit zugleich ihren Bezug auf periphere Bewegungen zu unterstützen. Immerhin tut Via Campesina nicht nur in Europa sehr viel für ein weltweites Verständnis des Widerstands gegen land-grabbing, wenn auch beschränkt auf das Ziel von food sovereignty, ökologischen Landbau und Nachhaltigkeit. 

1 Das Folgende beruht auf der Darstellung in: „Das Ende des sowjetischen Entwicklungsmodells, Materialien für einen neuen Antiimperialismus Nr. 4, Schwarze Risse, Berlin, Rote Straße, Göttingen, 1992, daher ohne weitere Zitatangaben und den Darstellungen aus der neueren Literatur. 

2 Dazu und zu den folgenden Ausführungen D. Hartmann, Krisen, Kämpfe, Kriege, Bd. 2, Innovative Barbarei gegen soziale Revolution, Kapitalismus und Massengewalt im 20sten Jahrhundert, Hamburg, Berlin (Assoziation A), Berlin, Hamburg 2019, Kap. 3.3, S. 195 ff., Kap. 8.1 bis 3, S. 402 ff. 

3 Dazu auch D. Hartmann, Die zwei Gesichter des Jahres 1917. Die soziale Revolution und der Alptraum des „Roten Oktober“, in: Christopher Wimmer (Hg.), „Where have all the rebels gone“?, Münster 2020, S. 28.

4 „Moralische Ökonomie“ war der Verhaltenskodex der Subsistenzdörfer weltweit, der sich in Russland in der Auseinandersetzung mit den Grundbesitzern über Jahrhunderte entwickelt hatte. Eigentumslosigkeit an Grund und Boden, autonome Selbstorganisation bei seiner Verteilung, Versorgung aller, auch der arbeitsunfähigen Notleidenden, Gleichheit, Duldung von Einkommensunterschieden in nur geringem Maß verbunden mit größeren Verpflichtungen der Stärkeren gegenüber den Schwächeren, nachbarliche Hilfe, waren einige seiner Regeln. 

5 N. Mamonova, Food sovereignty and solidarity initiatives in rural Ukraine during the war, The Journal of Peasant Studies, Bd. 50, 2023, No. 1

6 Das Ende …, op. cit. in dem exzellenten Überblick in Teil 3, S. 272 ff. 

7 Für eine Liste der größten Landbesitzer mit Verflechtungen und Kreditgebern s. War and Theft…, op. cit., S. 8ff.

8 War and Theft, The Oakland Institute 2023, S. 19.

9 Vergl. dazu im Einzelnen D. Hartmann, Kriege, Kämpfe, Kriege, Bd. 1, Allan Greenspans endloser Tsunami“. Eine Angriffswelle zur Erneuerung kapitalistischer Macht, Berlin, Hamburg (Assoziation A) 2015, S. 60 ff. 

10 K. De Master, Food…, op. cit. S. 5 

11 Für eine grundsätzliche Auseinandersetzung mit diesem fundamentalen Komplex bäuerlicher Verhaltensorientierung vergl. D. Hartmann, Krisen, Kämpfe, Kriege, Bd. 2…. S. 26ff

12 Mamonova, Food Sovereignty…. op. cit. S. 2

13 Dirk Vogelskamp, Detlef Hartmann, Text

14 D. Hartmann, Krisen, Kämpfe, Kriege, Bd. 2, S. 522ff

15 N. Mamonova, Food…. op.cit. S. 5

16 N. Mamonova, Food…. op.cit., S. 16f

17 N. Mamonova, Patriotism and Food Sovereignty: Changes in the Social Imaginary of Small-Scale Farming in Post-Euromaidan Ukraine, Sociologia Ruralis Nr. 58, S. 190

18 Vgl. D. Hartmann, Krisen, Kämpfe, Kriege, Bd. 2…, op. cit., Kap. 3.3 b, S.204ff

19 https://viacampesina.org/en/undemocratic-land-reform-bill-threatens-peasant-access-to-land-in-ukrainehttps://www.euronews.com/my-europe/2019/2019/12/17/protests-in-kyiv-over-allowing-the-sale-of-ukraine‘s-prized-farmland; War and Theft…, op. cit., S.17.

20 N. Momonova, Food…, op. cit., S. 15, 19; War and Theft…op. cit., S. 17.

21 N. Mamonova, Patriotism, Food Sovereignty & contemporery ukraine, HTTPS://www.arc2020.eu/patriotism-food-soverenty-and-contemporary-ukraine, S. 3

22 O. Visser, N. Marmonova, Large scale land acquisitions in the former Soviet Union. A study of rural social movements and land conflicts, I.S.Land Academy report (Revised Version). Mit eingestreuten Berichten über die ukrainischen Bewegungen auf den Seiten 27 ff., 33 ff mit einem Vergleich der russischen und ukrainischen Bewegungen. 

23 Die folgenden Darstellungen und Zitate entnehme ich dem sehr guten Bericht in N. Mamonova, Food…. op.cit. Die Kritik an den Agrowissenschaftler*innen beruht ja nicht auf dem Vorwurf mangelnder Qualität der eigenen Indienststellung unter die kapitalistischen und europäischen Strategien, dazu weiter unten. Natalia Momonova hat eine Reihe von Interviews geführt, die öffentlich allen zugänglich sind, die ukrainisch sprechen. 

24 K. De Master, Food…, op. cit., S.10, 14, 16, Zitat S. 18. Im Bezug auf die Einstellungen spricht sie von einer „Widerstandsidentität“. Die Linien der Formierung der polnischen Stränge „moralische Ökonomie“ habe ich anderweitig nachgezeichnet „D. Hartmann, Krisen, Kämpfe, Kriege, Bd. 2, Kap. 7.3, S. 385ff. und werde sie hier nicht weiter verfolgen.

25 War and Theft…, op. cit., S. 12 f.

26 K. De Master, Food…, op. cit., S. 13

27 N. Mamonova, Food…, op. cit., S. 16.

28 Vgl. GRAIN, Joan Martinez-Aller, Leah Temper et al., The many faces of land grabbing, Cases from Afica and Latin America, EJOLT Report No.10, März 1914, S. 59 ff.; J. Bahati, Report by OAKLAND INSTITUTE Exposes Land Grab and Wrong Solution to Food Insecurity in the Dem. Rep. of Congo, Oakland Institute 4.4.2019

29 Vgl. dazu D. Hartmann, Krisen, Kämpfe, Kriege, Bd. 2… op. cit., passim.