Krisenticker #4 – Das Murmeltier hat’s doch gesagt!

Krisenticker #4 – Das Murmeltier hat’s doch gesagt!

Es hat den Anschein, dass die „Märkte“ dem Murmeltier nicht zugehört haben. Wir schon, aber uns hat die Corona-Pandemie im Griff gehabt. Der Krisenticker hat eine Pause gemacht und sie in diesen Kontext verlagert. „Kein Ende für Krise und Machtaneignung“ hieß es da1. Unter Verweis auf den auf nahe 200 Billionen (US: „Trillionen“) angewachsenen Schuldenpegel, auf denen Nachfrage, Finanzmärkte und Börsen schwimmen. Um Simplifizierungen vorzubeugen: in die Konsumnachfrage flossen sie nur teilweise, als Konsumenten- (der Subprimeanteil der Autokredite war in den USA und England gefährlich angewachsen), Unternehmens- (der KMU-Sektor in den USA und in der lateinamerikanischen Peripherie war damals schon vor dem bersten) als Studenten-, und zunehmend Elendskredite. Der keynesianische Multiplikator, über die schuldeninduzierte Nachfrage die Produktion und Investitionen dynamisiert, sorgte bei aller unternehmerischen Vorsicht immerhin für marginale konjunkturelle Impulse. Daneben fließen auch Spekulationsgewinne vor allem der kleinen Zocker und Daytrader in den Konsum. Für den entscheidenden Impuls sorgte allerdings die aus der Verschuldung bei künstlich niedriggehaltenen Zinsen dramatisch geförderte, in KMUs, Handwerk, Servicesektor ausstrahlende Immobilienblase, die auch die Rohstoffnachfrage in die Peripherien fütterte. Geld war infolge niedriger Zinsen und der Schuldenkaufprogramme (Stichwort „quantitative Easing“) beliebig verfügbar. Aber der Chicago-Prof und ehemalige Vorsitzende der indischen Zentralbank, Raghuram Rajan, und der Harvardökonom und IWF-Chefökonom Kenneth Rogoff und andere politisch-ökonomische Schergewichte haben früh zurecht das Ende der „Free-Lunch-Economics“2 prognostiziert, zumal parallel chinesische Stadtentwickler in absturzgefährdende Turbulenzen gerieten. Die Politik der Geldfluten ist ans Ende angelangt, eine unausweichliche Dynamik des Zinsdrucks trifft die Schuldner, und da weltweit die Schwächsten. 

Zwischenbemerkung: Der monetäre Schein als Verdeckung mörderischer Operationen 

Die Polemik in der bekannten Frage, was denn ein Bankraub gegen die Gründung einer Bank sei, ist eher harmlos, sie entstammt realsozialistischem Denken. Wir haben in unseren Beiträgen auf dieser Seite deutlich gemacht, dass Innovationen als bestimmende Kerne des Kapitalismus über die marxistisch verstandene tauschförmige Ausbeutung hinaus auch die Barbarei des Kapitalismus in eine weitere Zuspitzung treiben. Denn die Innovationsoffensiven bahnen ihren geschichtlichen Weg mit Hilfe mörderischer Zerstörungen. Ein Weg nicht nur zur Verwertung vorhandener Potentiale. Vielmehr zielen sie darüber hinaus auf die Inwertsetzung unerschlossener gesellschaftlicher, personaler, seelischer Dimensionen als neue Quellen des Werts, um der Krise der alten, herkömmlichen Quellen zu begegnen, neue Profitspielräume zu öffnen und das gesellschaftliche Kommando auf ein neues historisches Niveau zu bringen (relativer Mehrwert in Marx‘ ökonomistischer Verkürzung). Weil die anvisierten Menschen das nicht wollen, träge auf ihrem Leben und erkämpften Autonomien beharrten oder sich widersetzten und den Krisendruck dadurch erhöhten oder es den innovativen Avantgarden einfach zu langsam ging, hat der Kapitalismus immer zu barbarischen Mitteln gegriffen. In der historisch letzten, „fordistischen“ Innovationsoffensive über die einfache Gewalt hinaus zu massenmörderischen Kriegen bis hin zu Völkermorden.3 Im gegenwärtigen technologischen Angriff ist die Schwelle zum Genozid durch waffengefütterte neue Kriege, Kampf gegen die Flüchtenden, Hungermord längst überschritten. Sie erreicht in der ukrainischen Blutmühle (s. Beitrag) eine neue hybride Dimension und bereitet in und mit der Schuldenkrise gerade ein neues Niveau des Hungermordes vor. Einige sagen, es sei bereits erreicht. Wenn sich der Weg innovativer Zerstörung und Vernichtung früher in den neutralen Geld-„Schein“ hüllte, so kleidet er sich heute geräuschlos in die informationellen Prozesse globaler Netze. Wenn wir also im Krisenticker die monetäre Seite mit nüchternen Worten beleuchten, so müssen wir die mörderische Gewalt immer mitdenken. „Als Subtext“ hätten wir beinahe gesagt. Aber das wäre altes Denken und alte Sprache. Denn die blutige Gewalt und das Elend sind ja technologisch inzwischen geradezu mit ihr verwoben, viel enger als je zuvor. 

Angebotsschock und Nachfrageschock

Angebotsschock: Der Schuldenpegel, der von Greenspan 2006 an seine nationale Grenze getrieben wurde4, hatte seine steigenden Fluten globalisiert und beginnt jetzt, in die globale Rezession und wohl auch Depression abzustürzen. Auf der einen Seite werden „Angebotsschocks“ dafür verantwortlich gemacht. So sei die Inflation zum Teil „politisch“ und Putins Energiepreisen geschuldet. Inflation heißt: weniger Waren steht mehr Geld gegenüber. Die entfesselten Geldfluten treffen in einigen Bereichen auf ein reduziertes Angebot von Waren, Investitionsgütern und Dienstleistungen. „Supply shock“ heißt das auf ökonomisch. Aber das geht nur teilweise „politisch“ auf Putins Konto. Das Angebot ist auch durch den politisch und ökonomisch induzierten Verfall der Globalisierung zunehmend eingeschnürt worden. Die Ursachen sind neue Unsicherheiten aber auch strategische Konflikte, vor allem zwischen den USA und China, die in vielen Bereichen zum Rückzug aus der globalisierten Produktion geführt haben, ja sogar zurück in die heimische Produktion („reshoring“ nach dem globalisierenden „offshoring“, der Auslagerung von Produktion). Dieser Verfall hat sich in gestörten Lieferketten, asiatischen, nicht nur mehr chinesischen reduzierten Angebotsspielräumen, Währungsschwankungen manifestiert. Die Ursachen dieses Schocks sind über strategische Konkurrenzen hinaus nicht nur „sozial“ in den unternehmerischen und staatlichen Befürchtungen vor einem jetzt manifest gewordenem Aufbegehren, wie auch den nachlassenden Parametern unternehmerischen Investitionssicherheit zu suchen. Sie gehen auch, aber nur begrenzt auf die Pandemie zurück. Es liegt auf der Hand, dass Inflation, vor allem heute als Grund für den Rückzug in den überlebensnotwendigen Konsum, die nachfragewirksame Geldmenge weiter reduziert und krisentreibend wirkt.

Der „Nachfrageschock“ (demand shock) ist außer ein paar technischer Ursachen vor allem auf die Schuldenkrise zurückzuführen. Der Verfall des kaufkräftigen („fiktiv“ genannt weil kreditgefüttert) Wertaufkommens und die zerbröselnde Rendite aus ihrem Einsatz in den peripheren Ländern gefährdet Banken, Schattenbanken und sonstige Vermittler und darüber die metropolitanen Geldgeber *innen. Und durch reduzierten Konsum und Investitionen die Absatzmöglichkeiten aus dem globalen Norden. Kurz: es ist weltweit weniger Geld zum Kauf von Waren und Investitionsgütern damit der Folge von Deflation und Zusammenbruch.

Das heißt, die Innovationsoffensive letztlich der IT-Industrien, der maßgeblich die globalisierten Geldtsunamis zur immer dramatischeren Überwindung seiner in Kette produzierte Krisen dienten, ist dabei, in eine epochale Stagnation abzustürzen.

Wasserstandsmeldungen der Schuldenfluten 

Die teilweise an die Panikgrenze reichenden Wasserstandsmeldungen aus den verschiedenen Regionen können wir hier nur summarisch überfliegen. Wir tun das von unten nach oben, von den ärmsten Ländern vor allem des globalen Südens „hinauf“ bis zu den ökonomisch mächtigsten Metropolen.

Die am stärksten verschuldeten „Länder“ befinden sich an den Peripherien der Metropolen, vor allem im sogenannten „globalen Süden“. Es ist zunächst oft fragwürdig, den staatlichen Aspekt in den Vordergrund zu schieben. Denn in vielen Gebilden Lateinamerikas und Afrikas wird die Bevölkerung zwar von den durch die Länderregierungen eingegangenen Schulden belastet und als Steuerzahler in den Schuldendienst getrieben, aber sie identifizieren sich oft nicht oder nur schwach mit den Strukturen und vor allem nicht mit den Herrenschichten. Und sie haben auch nichts von den aufgenommenen Krediten, die oft nur in deren Taschen fließen. Das dadurch geschaffene Elend drückt sich in den letzten Jahren zunehmend in Kämpfen und Aufständen aus.

Sri Lanka, Indien, u.a.

Die Berichte und Bilder aus Sri Lanka haben unsere trotz Ukrainekrieg behagliche bürgerliche wie linke Lebensweise schockartig mit ihren Bedrohungen konfrontiert. Sri Lanka ist seit Jahren und nach Corona in zunehmendem Absturz befangen. Corona hat die Tourismusindustrie, die vor Textilien, Tee, Kokosnussprodukten, in den Vordergrund gerückt war, praktisch zum Erliegen gebracht und die Auswirkungen der Jugendarbeitslosigkeit von 20% erheblich verschärft. Zudem hat Putins Ölschock die für Bauer*innen und städtische Kleingewerbetreibende überlebensnotwendigen „tuk tuk“- Mobile in die Warteschlange vor den Tankstellen gezwungen. Die Inflation hat nicht nur die Kosten von Lebensmitteln mit unabsehbaren Hungerfolgen vor allem für die Kinder, sondern auch für Medikamente unerreichbar nach oben getrieben. Der Schuldendruck liegt bei 1000% im Verhältnis zum BIP. Kein Grund allerdings zur Aufgabe des Luxuslotters für die Regentenfamilie Rajapaksa. In die jetzt entfesselten Revolte mischen sich breit alle Teile der betroffenen Bevölkerung – erstmals kämpfen die Bürgerkriegsgegner Singhalesen, Tamilen und Muslime zusammen – mit erkennbarer Dominanz der sehr erfinderischen Jugendlichen. In der millionenstarken „Aragalaya“- (Singhalesisch „Kampf) Bewegung“, laut Beobachtern „führerlos und organisch“ aus der Kampfzeltstadt heraus. Die Beobachter nennen das eine „spontane Erhebung“5. Aber wie immer ist das eine zweifelhafte Metapher aus einer Position, die wenig Einblick in die Prozesse der Selbstorganisation hat.6 Die Bilder von der Besetzung des Präsidentenpalasts „Temple Trees“ incl. Swimmingpools, jetzt in ein Volksmuseum verwandelt und Ort von Gemeinschafsküchen etc., kennen wir. Der IWF hat sein Eingreifen mit den üblichen Austerity-Maßnahmen angekündigt, aber nach berechtigter Einschätzung wäre das der Auftakt einer neuen Anti-IWF-Revolte. Der Präsident ist geflohen, lauert aber über seinen Vasallen Ranil Wickremesinghe im Hintergrund. Der erhebt Anspruch auf die Präsidentschaft mit der Daumenschraube aus IWF und Benzinlieferungen in der Hand und dem Angebot nach außen, den Stabilitätsbedürfnissen internationaler Geldgeber gerecht zu werden. Es ist klar, ohne eine Internationalisierung und auch die Beteiligung aus dem Herzen der Bestie wird es schwierig für Aragalaya.

Die Gefährlichkeit der Situation für das subkontinentale wie globale Kapitalkommando liegt in der Übertragung dieser Impulse nach Indien, Pakistan, Bangladesch. In Indien haben sich neben den schwelenden Auseinandersetzungen zwischen Regierung und Dörfern die Bäuer*innen gegen die Agarreform zur Liberalisierung des Agrarsektors schon Anfang des vergangenen Jahres mit Autobahnblockaden, Besetzungen und Zerstörungen radikalisiert. Es sind vor allem Zerstörungen von Funktürmen der Smartphonenetze des indischen Milliardärs Mukesh Ambani aus dem Facebook-Imperium, der sich zum organisatorischen Nutznießer der Reform machen will: „The world’s most important war on Big Tech.“ Ein Krieg zugleich gegen die Verschuldung der Bäuer*innen, der auch zu hohen Selbstmordraten geführt hat. Eine neue Phase also nach den durchaus erfolgreichen Kämpfen der vergangenen Jahre gegen den Terror der Mikrokredite. Wir werden den Übertragungen und Verbindungen zwischen den Revolten weiter nachforschen.

Über das Anwachsen der Schulden in Schwellen- und Entwicklungsländern der letzten Jahre haben wir in den letzten Krisentickern berichtet. Die Lage hat sich seitdem erheblich verschärft, vor allem durch Corona, aber auch ohne Corona. Der Schuldenreport der NGOs weist 135 von 148 untersuchten Ländern als kritisch verschuldet aus. Die erwartete Steigerung der Zahlungen auf die Schulden liegt bei den 63 ärmsten Ländern bei 133% bis 216%. Einer Reihe von Ländern wie Pakistan; Tunesien, Äthiopien, El Salvador oder Ghana droht der Bankrott. Das heißt, die Einfuhr über Konsum- und Investitionsgüter hinaus von alldem, was Menschen dringend brauchen, vor allem Medikamente, wird eingeschränkt oder gar aufgegeben.

Die Kämpfe in Sri Lanka und Indien sind nur Teil des globalen Aufruhrs. Auch die Kämpfe in Lateinamerika und Afrika, von denen wir nur einige herausgehobene kennen, sind Teil dieser weltweiten Auseinandersetzung. Das gilt auch für Chile und Bolivien. Es wäre falsch, sie isoliert zu betrachten oder nur als Ausdruck einer spezifischen sozialen und kulturellen Thematik. Der mit der Innovationsoffensive verbundene Produktivitätsschub und die damit einhergehende Zurichtung der jeweiligen Produktionsstrukturen (z.B. Reduktion auf bestimmter cash-Produkte wie etwa Kakao, Kaffee, Palmöl, Tourismus etc.) hat tradierte Arbeits- und Lebensformen entwertet und oft zerstört. Das Volumen ihrer Arbeitswerte verringert sich und wenn sie nicht flüchten, revoltieren sie gegen die jeweiligen Statthalter des Kapitals. Das reduziert Investitionsbereitschaft und –möglichkeiten weiter. All das ist daher sowohl Ausdruck und Mitursache der Krise. Wir haben das schon in Hydra Nr. 2 am Beispiel des Maghreb thematisiert. Der weltweite Aufruhr ist ohne die Innovationsoffensive nicht zu denken. Bede bilden den Zusammenhang eines historischen grundlegenden Antagonismus.

Der hier skizzierte weltübergreifende Zusammenhang drückt sich auch darin aus, dass Erfahrungen eines Aufstands in anderen aufgegriffen werden und durchaus Korrespondenzen entstehen. Wie in der Arabelliion, die Maghreb und vorderen Orient in Brand gesetzt hat. Wir wissen zu den Aufständen dieses Jahres darüber zu wenig. Aber wir müssen es wissen, um unseren Ort darin und unser Verhältnis dazu zu suchen. Denn wir gehören, auch als Linke, zur Nutznießerschaft der abgepressten Werte. Bei Hydra ist das das Thema der nächsten Monate.

BRICS

Alle BRICS-Länder (kürzel für die Schwellenländer Brasilien, Russland, Indien, China, Südafrika, die Türkei wird auch dazugezählt) sind von der Schuldenkrise betroffen. Zu BIS und Türkei brauchen wir nichts zu sagen, sie sind Gegenstand der Tagesberichterstattung. Für Russland scheint dies angesichts seiner zur globalen Machtposition erstarkten Rohstoffmacht nicht zu gelten. Aber die hat in Anbetracht der massiven Anstrengungen der abhängigen Länder eine kurze Verfallszeit. Und wenn man die Rohstoffe herausrechnet, steckt die russischen Ökonomie in einer tiefen Krise. Das gilt auch für China. Auch, aber nicht nur wegen der Störungen durch Covid und die radikale Eindämmungspolitik wird gegen die offiziellen Wachstumsankündigen dieses Jahr ein Nullwachstum erwartet. Die Produktion ist in diesem Quartal gegenüber dem letzten am Schrumpfen. Dagegen sind die Importe vor allem von Öl und Nahrungsmitteln rasant gestiegen. Der Immobilienmarkt ist in einem tiefen Verfall begriffen. Käufer verweigern die Zahlungen auf Hypotheken, weil sie die Nichtfertigstellung ihrer Kaufobjekte befürchten. Auch die Folgen des „reshoring“ machen sich bemerkbar.

Metropolen 

Weltweit, aber besonders in den USA sind die in „Krisen, Kämpfe, Kriege“ Bd. 17 behandelten sekuritisierten Subrimeschulden – Grund des Crashs von 2006 – auf dem großen Sektor der Privatkredite vor dem Platzen. “The sub-prime timebomb is back“, heißt es. Die Unternehmensschulden drücken auf die Blase, auch die über die US-Bundesstaaten in die sozial explosiven Sektoren vermittelten Kredite. In und zu England wird der Komplex aus hoher Verschuldung, niedriger Produktivität und Brexitdesaster schon jetzt in die Krisenkette 1931, 1949, 1967 gezählt. Australien scheint angesichts seiner Haushalte unter einem „world-beating debt“ am Limit. Die Eurozone nähert sich wieder der Konstellation von 2010 ff. an, die John Malamatinas und Detlef Hartmann im Buch über „Krisenlabor Griechenland“ behandelt haben. „Es ist, als hätte es die letzten 10 Jahre nicht gegeben“, titelt der Guardian. Die inzwischen vornehm als „Fragmentationsproblem“ abgespeicherten Differenzen der Bondrenditen, gemessen anhand der Übernacht-Swaps an der Kurve der sicheren Renditen, bewegen sich wie vor 10 Jahren, von der EZB etwas gemildert durch das Versprechen neuer situationsangepasster Bondkäüfe („targeted assetpurchases“). Notpflaster, kein Allheilmittel. Die EZB ist zwischen Baum und Borke im Kampf gegen die Inflation auf der einen und gegen die Fragmentierung auf der anderen Seite. Oder, wie Berkeleys Europaspezialist Barry Eichengreen titelt: „Europe’s Economy on a Knife Edge“. Die Kommission setzt mit Hilfe der Ukraine offenbar auf einen Einigungskrieg, der neue Machtgeldspielräume eröffnet („Marshallplan“).

Wie geht’s weiter? Was sagen die Propheten?

Wie wird sich die Krisendynamik entwickeln und an welchem Punkt stehen wir? Die bürgerlichen Auguren sind je nach dem Komplexitätsgrad methodologischer Fundierung zu rezipieren. Lehrbuchgerechte Meinungen, die sich innerhalb der Grenzen der überkommenen politischen Ökonomie bewegen, lasten die Krise dem Schock einerseits auf der Angebotsseite an – Covid, Ukrainekrieg, durch politische Spannungen hervorgerufenes reshoring und andere Einbrüche in der Globalisierung. Und auf der Nachfrageseite: dem weltweiten schulden-, aber auch inflationsbedingten Nachlassen der Nachfrage. Dazu gehört auch das mangelnde Vertrauen der Importeure in die Stabilität der politischen Verhältnisse. Sektoral wirken sich auf dem Nachfragesektor Einzelursachen wie Energiepreise und damit alle Energie-, Öl-, und Gasbedingten Momente in Richtung Inflation aus, ohne dass man von einer generellen inflationären Tendenz sprechen kann. Die meisten Auguren sehen dementsprechend psychologische Einbrüche im Unternehmer- und Konsumentenvertrauen. Der reflektierte Nouriel Roubini (von Wallstreet aufgrund seines Pessimismus als Dr. Doom gemobbt). Er bombardiert das Publikum inzwischen mindestens im Wochentakt mit Aufsätzen, in denen er eine Stagflation heraufkommen sieht. Sein bei Project Syndicate veröffentlichter und inhaltlich vielfach wiederholter Artikel über „Stagflationäre Schuldenkrise im Anmarsch“ lässt beide Seiten – Angebot und Nachfrage—als Sportmannschaften auftreten, ironisch. Denn wenigstens er stellt die aktuelle Krise als vorläufigen Endpunkt eines historischen Krisengeschehens dar. Er sprengt damit die eher systemisch angelegte Logik der „textbook“- orientierten Mannschaften (es gibt in den USA ein akademisch allseits verwendetes politisch-ökonomisches Grundlagen-Textbook8). Roubini erwähnt in anderen Artkeln zur Stagflation über die Schuldenkrise hinaus weitere Krisengründe wie technologische Arbeitslosigkeit, Überalterung, Rückzug aus der Globalisierung, deflationäre Risiken. Die BIZ rückt die Situation in die Nähe einer „secular stagnation“, einer depressiven epochalen Stagnation. Das war das charakterisierende Schlagwort für die Große Depression der 30er Jahre. In einer sehr reflektierten Weise sagt Dani Rodrick, dass wir damit an einem Punkt sind, an dem der Kapitalismus vor dem Umbruch in eine neue Theorie der der politischen Ökonomie steht. Das meinen wir auch und darum sind die Maßstäbe, Begriffe, Parameter der alten politischen Ökonomie für die Beurteilung der Krise zugleich auch fragwürdig. 

Was sagt die Geschichte?

Bis in die Details gleicht die heutige Krisendynamik derjenigen der 20er Jahre, und zwar bis in den Absturz von 1929 hinein. Die sich beschleunigende Dynamik der 20er Jahre hatte ihren Grund in all den oben genannten auch heute wirkenden Momenten. In Auswahl: Eine Innovationsoffensive, der eine ausreichende Nachfrage über zwei Friedens- und eine Kriegsphase durch immer neue Öffnungen der Verschuldensschleuse mobilisierte, die dann nicht mehr aufrechterhalten bzw. erneuert werden konnte. Die technologische Arbeitslosigkeit. Protektionismus, ja sogar ein krisenverschärfender „Irredentismus“, der in den 20er Jahren wie heute geltend gemachte Anspruch auf (damals) unerlöste fremde Landesteile und Bevölkerungen. Auch die durch all das provozierten und und verschärften sozialrevolutionären Blockierungen im damaligen globalen Süden zeigen ein analoges Profil.9

Wie es in der Geschichte weitergegangen ist wissen wir. Über eine Autarkiephase wurde der Weg in eine kriegsökonomische Erneuerung der Dynamik gesucht.10 Der nächste Krisenticker wird sicher nicht lange auf sich warten lassen.

1 D. Hartmann, Covid-Politik und die Neuformierung der Macht, Berlin (Aufbau A) 2020, S. 39

2 Zusamenfassend nochmal R. Rajan, Tie End of Free-Lunch-Ecolomics, Project Syndicate 21.6.2022

3 D. Hartmann, Krisen, Kämpfe, Kriege, Bd. 2. Innovative Barbarei gegen soziale Revolution. Kapitalismus und Massengewalt im 20. Jahrhundert, Berlin, Hamburg 1919.

4 Vgl.D. Hartmann, Krisen, Kämpfe, Kriege, Alan Greenspan’s endloser „Tsunami“, eine Angriffswelle zur Erneuerung kapitalistischer Macht, Berlin, Hamburg 1915. S. 141 ff.

5 T. Wong, A. Ethirajan, The Hard Choices Sri Lankans must make now, BBC 17.7.2022.

6 Vgl. grundsätzlich dazu D. Hartmann, Christopher Wimmer, Die Kommune vor der Kommune 1870/71, 9 ff., 112 ff.

7 Ebd.

8 Z.B. P. Krugman, International Economics: Theory and Policy, With Maurice Obstfeld. 7th Edition (2006)

9 Die Einzelheiten in: D. Hartmann, Krisen, Kämpfe, Kriege, Band 2, Innovative Barbarei gegen soziale Revolution, Kapitalismus und Massengewalt im 20. Jahrhundert, Berlin Hamburg (AssoziationA), Kap. 4,5.,

10 ebd., Kap. 6 – 8.