Die Kriegsökonomie hat Russland aus der Stagnation und Krise geholt und entfaltet ähnliche Wirkungen auch nach außen, ganz in Übereinstimmung mit historischen Kriegsökonomien, z.B. der deutschen im 1. und 2. Weltkrieg.
Russland hat die Kriegsproduktion enorm hochgefahren. Es produziert inzwischen in drei Monaten so viele Waffen und Munition wie alle Länder der EU zusammen in einem Jahr. Polen eingeschlossen, das an die 4% des BIP für das Militär ausgibt. Das ist das vorläufige Endstadium einer Entwicklung, in der Putin die Bahnen einer marktförmigen Versorgung zugunsten einer immer strafferen Organisation eines nach dem Zerfall der SU neuen militärisch-ökonomischen Komplexes (MIK). Hintergrund ist die seit über 200 Jahren noch immer aufrechterhaltene Kultur des preußischen Großen Generalstabs, die die Staatsorgane an eine zentrale militärische Organisation anbindet und zum Zentrum der Versorgung macht. Nach einer Liberalisierung und tendenziellen Reprivatisierung unter Jelzin begann das Verteidigungsministerium unter Putin 2003, den MIK wiederherzustellen. Die Iwanow-Doktrin orientierte die Kriegsbereitschaft an der Fähigkeit, zwei regionale Kriege und die Maßnahmen einer friedenssichernden Operation ohne Mobilisierung gleichzeitig durchzuführen, gesichert durch die Militärreform von 2008. Ohne ihre Vollendung wurde der Überfall auf die Ukraine begonnen. Während des Kriegs wurde der MIK weiter vorangetrieben. Hierzu wurden Gesetzesinitiativen in die Hände innerparlamentarisch gebildeter Körper gelegt und an den militärischen Erfordernissen orientiert. Die Versorgung mit Kriegsmaterial sichern im staatlichen Eigentum (teils direkt des Verteidigungsministeriums) aber auch in privatem Eigentum stehende Fabriken. Die Mobilisierungsgrade hängen vom Charakter des Konflikts ab.
Die Hoffnungen, die russische Wirtschaft würde zusammenbrechen, haben sich nicht erfüllt. Zwar lösten die Sanktionen anfänglich einen Schock aus. Es kam zu Knappheiten bei Konsumgütern, benötigten Rohstoffen und Komponenten. Die Inflation stieg im April 22 auf 17,8%. Aber die Leitzinsen wurden drastisch von 9,5% auf 20% erhöht und die Exporte stiegen, begünstigt durch die steigenden Weltmarktpreise von Öl und Gas unbeeinträchtigt von Sanktionen von März bis Mai 22 auf 154 Mrd. $ bei mit 54 Mrd. $ zurückbleibenden Importen. Die Lieferwege vieler für Produktion und Konsum benötigter Waren wurden umgestellt, reorganisiert über Drittländer, die weiterhin hohen Energiepreise spülten hohe Steuereinnahmen in die Staatskasse, sicherten die Ausgaben für Militär und Rüstungsproduktion und stützten die Konjunktur. Die russische Wirtschaft erholte sich schnell vom anfänglichen Einbruch des BIP um 6%. China wurde zum entscheidenden Handelspartner, auch auf technologischem Sektor, hier durchaus unter Weiterverkauf westlicher Technik, wie z.B von Halbleitern (Intel, Samsung, Infineon) im Wert von monatlich 200 Mio. $.
Seit der Invasion hat sich der Militärhaushalt verdreifacht, auf den Verteidigungshaushalt entfallen mit 6 Billionen Rubel 40% der Staatsausgaben, verglichen mit 14%-16% vor 2022. Festgehalten in einer jahrelangen krisenhaften Stagnation wuchs das BIP 2023 auf 3,6%, erwartet werden dieses Jahr 2,5%-3%. Die Realeinkommen stiegen 2023 um 5,8%, die Löhne haben sich – bei großen regionalen Unterschieden – im verarbeitenden Gewerbe mehr als verdreifacht, in manchen Fällen sogar verfünffacht, flankiert von den steigenden über den hohen Sold hinausgehenden Ausgaben für Soldaten und ihre Familien. Die Arbeitslosigkeit hat mit 3% einen historischen Tiefstand erreicht, zurückzuführen auch auf einen Exodus von 1 Million Gutausgebildeter schon im ersten Kriegsjahr, ein regelrechter brain drain.
„Kriegskeynesianismus“ wird der Boom inzwischen genannt, nicht ganz unberechtigt, als ja der Keynesianismus ein Produkt des 2. Weltkriegs war. Wie damals, so beschränkt er sich auch heute nicht auf die wirtschaftspolitischen Maßnahmen. Er ist Teil einer langfristigen politischen Strategie, die insbesondere von den nationalkonservativen Fraktionen der russischen Elite vertreten wird: Verringerung der Abhängigkeit vom Rohstoffexport, Stärkung der multipolaren Weltordnung, Aufgabe der monetaristischen Finanzpolitik, Einführung der Kapitalverkehrskontrollen, Entkoppelung vom Westen, wirtschaftliche Ausrichtung Russlands nach Asien.
Der Kriegskeynesianismus hat seine soziale Basis in breiten Schichten der Bevölkerung, deren Interesse an seiner Fortsetzung einer Friedenslösung entgegensteht.
Außenwirkung der russischen Kriegsökonomie
Auf die Bedrohung aus Russland reagiert Polen mit der eigenen Aufrüstung. Nicht ohne Grund. Denn für Putin ist der Zerfall der Sowjetunion ein Stachel im Fleisch. Sein langfristiges Ziel ist die Wiederherstellung eines ähnlichen Staatenbunds. Polen will erklärtermaßen bis 2035 die stärkste Landstreitmacht in Europa werden. Mit 3,9% des BIP war der polnische Verteidigungshaushalt 2023 fast doppelt so hoch wie das Nato-Ziel von 2% für jedes Land. Auch wenn das noch unterhalb der Schwelle einer Kriegswirtschaft ist, so zeigt sich eine konjunkturelle Belebung auch hier. Das ist die typische Wirkung eines kriegsökonomischen Konjunkturexports über Feindesgrenzen hinweg, wie die Entwicklung der USA, Frankreichs und Englands vor und im 1. Und 2. Weltkriegs zeigt. Ähnliche, wenn auch noch schwache grenzüberschreitende Auswirkungen zeigen sich auch in Tschechien oder Rumänien. Dass darauf auch für die EU spekuliert wird, zeigt die Aufforderung des EU-Industriekommissars Thierry Breton: „Europa muss sich auf einen Kriegswirtschaftsmodus umstellen“.
Ende der russischen Kriegsökonomie?
Russland stünde vor einer Stagflation, einer unheilvollen Kombination vonInflation und Stagnation, heißt es nicht nur aus westlichen Wirtschaftskreisen, sondern auch aus dem russischen Zentrum für makroökonomische Prognose (CMASF). In Russland, so vom CMASF, wird die Verantwortung für das schwache Wachstum den von der Zentralbank verordneten – sie ist nur dem Parlament verantwortlich – hohen Zinsen zugeschoben. Diese wiederum verweist auf „externe Faktoren“ wie Sanktionen und nachlassende Ölpreise und prognostiziert für 1925 ein Wachstum von 0,5-1,5%. Von anderen wird auf steigende Kosten verwiesen. Das bedeutet noch nicht das Ende der Kriegsökonomie. Die Verhältnisse sind aber unklar. Wir werden weiter berichten.
Das erste Mal, dass ein Unternehmen aus der Golfregion eine Mehrheitsbeteiligung an einem westeuropäischen Unternehmen anstrebt
„Es geht nur ums Geld, zum Glück“ frohlockte die Wirtschaftswoche1, angesichts der Absicht der staatlichen Abu Dhabi National Oil Company (Adnoc), den Leverkusener Kunststoffhersteller Covestro zu kaufen. Aber: wer oder was sind Adnoc und Covestro und was hat es mit dem 16 Milliarden € Deal auf sich?
Abu Dhabi National Oil Company (Adnoc)
Adnoc wurde 1971 in Abu Dhabi gegründet, um die gigantischen Öl- und Gasreserven des Emirats zu heben, die sechstgrößten der Welt. Diese befinden sich zum Großteil in Abu Dhabi2 und werden fast ausschließlich von Adnoc gefördert3.
So ist Adnoc – gemessen an Reserven und Produktion – eines der weltweit größten Energieunternehmen, Nach eigenen Angaben hat es zahlreiche Tochtergesellschaften in den Bereichen Upstream (Erkundung und Förderung), Midstream (Transport und die Lagerung) und Downstream (Umwandlung in verschiedene Fertigprodukte)4. Adnoc entwickelt Gasfelder sowohl Onshore als auch Offshore, betreibt zwei Ölraffinerien, exportiert verflüssigtes Erdgas (LNG) und baut Petrochemieanlagen und andere Einrichtungen zur Energie- und Wasserversorgung.
Mit anderen Worten: die CO2 Bilanz des Konzerns ist ziemlich mies. Denn das Kerngeschäft ist und bleibt vorerst das klassische Öl- und Gasgeschäft. Über einen Zeitraum von sieben Jahren plant Adnoc weitere Investitionen in Höhe von 150 Milliarden Dollar in die Förderung von Öl und Gas, die nach Aussage von Konzernchef Al Jaber vor allem dazu dienen sollen, das aktuelle Produktionsniveau zu erhalten oder gar zu steigern5.
Die Steigerung der Gasförderung soll Gasimporte aus Katar überflüssig machen und die eigenen Ausfuhren, vor allem nach Europa, ausweiten6.Denn seit dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine haben sich europäische Länder wie Deutschland, Frankreich und Österreich an die Emirate gewendet, auf der Suche nach einem Ausgleich für russische Gaslieferungen7. Weil der Westen den Export von russischem Öl und Gas stark reduzierte, wurde Europa für die Emirate ein noch lukrativerer Markt und Adnoc hat massiv an Verhandlungsmacht gewonnen.
Bereits im Frühjahr 2023 wurden in Deutschland zwei schwimmende Importterminals für Flüssigerdgas (LNG) eröffnet8. Seitdem liefert Abu Dhabi LNG nach Deutschland – Adnoc kooperierte dafür mit dem deutschen Energieversorgungskonzern RWE. Im Oktober 2023 erreichte die erste Wasserstofflieferung von Adnoc den Hamburger Hafen9.
Der Chef
Der Chef des Unternehmens ist ein nicht ganz unbekannter, denn Sultan Ahmed Al Jaber, Duzfreund von BRD-Wirtschaftsminister Habeck10besetzt mehrere zentrale Posten.
Als Chef von Adnoc ist er der Herrscher über die gewaltigen Öl- und Gasvorkommen der Emirate11.
Als Industrie- und Technologieminister der VAE behauptet er, sein Land bis 2050 auf Neutralität beim Treibhausgas trimmen zu wollen. Wie er das schaffen will, ohne das aktuelle Produktionsniveau von Adnoc zu senken, bleibt allerdings sein Geheimnis.
Al Jaber war auch der umstrittene Gastgeber der letzten Weltklimakonferenz COP28 Ende 2023 in Dubai. Weil er auch weiterhin mit fossilen Brennstoffen Geld verdienen will sind die Ergebnisse der Konferenz so dürftig ausgefallen, bemängeln Kritiker:innen. Ihm wird vorgeworfen, er verfolgte dort eher das Ziel, neue Geschäfte anzubahnen als Emissionen zu reduzieren.
Al Jaber ficht das nicht an. Die Welt, sagte er bereits im Frühjahr 2023 beim „Berlin Energy Transition Dialogue“, brauche nicht Öl und Gas oder Solar, nicht Wind oder Atomkraft oder Wasserstoff. »Sondern alles zusammen.«12.
Wanderarbeiter:innen zahlen den Preis für Europas neue Gasimporte
Die Projekte von Adnoc werden von den Wanderarbeitern des Landes geschaffen (in der Regel männlich gelesene Personen). Insgesamt arbeiten in den Emiraten in allen Branchen fast 8 Millionen Migrant:innen, hauptsächlich aus südasiatischen Ländern wie Indien, Nepal, Sri Lanka und Pakistan und machen 90 % der gesamten Erwerbsbevölkerung des Landes aus, so die Internationale Arbeitsorganisation der Vereinten Nationen (ILO). Laut Regierungsstatistiken reisten beispielsweise alleine im Jahr 2022 rund 350.000 Wanderarbeiter:innen aus den drei Ländern Bangladesch (100.000), Pakistan (128.000) und Nepal (122.000 ) in die VAE, um dort zu arbeiten13.
Es gibt keine öffentlich zugänglichen Zahlen darüber, wie viele Arbeitnehmer:innen derzeit im Öl- und Gassektor der Emirate beschäftigt sind, aber 30 % des BIP des Landes hängen direkt von dieser Branche ab. Einem Bericht aus dem Jahr 2016 zufolge hatte allein Adnoc damals rund 55.000 direkte Beschäftigte, wobei Auftragnehmer und andere Fremdarbeiter:innen nicht mitgezählt werden14.
Die Arbeitsbedingungen sind sehr hart. Ein gering qualifizierter Arbeiter erhält in der Regel rund 300 US-Dollar pro Monat. In anderen Sektoren ist der Lohn noch niedriger. Ein Wanderarbeiter aus Pakistan sagt, er wisse sehr wohl, dass die Arbeit in der Öl- und Gasindustrie ein „gefährliches Umfeld“ sei. Er war bereit, den Job in der Hoffnung auf eine bessere Bezahlung anzunehmen. „Ich hatte vier Jahre lang in der Hitze geschuftet und nichts dafür bekommen. Ich bin zu dieser Arbeit gewechselt, denn auch wenn ich immer noch leide, bekomme ich wenigstens eine Gegenleistung“, sagt Amer. „Jede Arbeit hier ist riskant.“15
Laut Vital Signs, einem internationalen Zusammenschluss von NGOs – darunter das Center for Migrant Advocacy auf den Philippinen, das Law and Policy Forum for Social Justice in Nepal, das Justice Project Pakistan, die Refugee and Migratory Movements Research Unit in Bangladesch und FairSquare im Vereinigten Königreich – sind gering bezahlte Wanderarbeiter:innen in der Golfregion einer Reihe von kumulativen Gesundheitsrisiken ausgesetzt, darunter Hitze und Feuchtigkeit, Luftverschmutzung, Überarbeitung und missbräuchliche Arbeitsbedingungen, schlechte Arbeitsschutzpraktiken, psychosozialer Stress, Bluthochdruck und chronische Nierenerkrankungen. Extreme und steigende Temperaturen in Verbindung mit unzureichenden Schutzmaßnahmen setzen Wanderarbeiter:innen in der gesamten Region einem akuten Risiko von potenziell tödlichen hitzebedingten Krankheiten und Verletzungen aus. Vital Signs schätzt, dass jedes Jahr 10.000 südasiatische Wanderarbeiter:innen in der Golfregion sterben, von denen die Hälfte als „Herzstillstand“ oder „natürliche Ursache“ registriert wird – ein verdächtig hoher Prozentsatz, der möglicherweise verschleiert, wie viele dieser Todesfälle arbeitsbedingt sind16.
Branchenbeobachter:innen und Arbeitnehmer:innen weisen auf mangelnde Transparenz und potenzielle Interessenkonflikte bei der Meldung von arbeitsbedingten Verletzungen oder Unfällen hin, insbesondere wenn das Risiko tödlich ist. Ein Adnoc-Beauftragter für Gesundheit und Sicherheit gibt zu, dass der Öl- und Gassektor der Emirate den Wanderarbeiter:innen einen relativ guten Lebensstandard bietet, aber eben auch mehr Risiken.
„Bei schweren Unfällen oder Todesfällen wird die Polizei eingeschaltet, und ein medizinischer Sachverständiger führt eine Obduktion durch“, so der Gesundheits- und Sicherheitsbeauftragte. „Wenn sich herausstellt, dass es sich um einen Herzinfarkt oder einen natürlichen Tod handelt, müssen die Unternehmen die Familien nicht entschädigen“. Regierungsbeamte würden die von medizinischen Experten erstellten Todesberichte beeinflussen– in der Regel im Sinne der Unternehmen17.
So werden die Todesfälle von Adnoc und anderen Regierungsbehörden regelmäßig als Herzinfarkt eingestuft, wie mehrere mit der Situation vertraute Quellen berichten. Aktivist:innen haben bereits früher auf die mangelnde Transparenz in Bezug auf die hohe Zahl ungeklärter Todesfälle von jungen Arbeitsmigrant:innen am Golf hingewiesen: „Dies gilt insbesondere dann, wenn es sich um Todesfälle von Ausländer:innen handelt. Je niedriger die soziale Schicht ist, desto wahrscheinlicher ist es, dass der Tod einer Person nicht untersucht wird, selbst in Fällen, in denen Fahrlässigkeit des Arbeitgebers vermutet wird“, sagt Nicholas McGeehan, Mitbegründer und Direktor von Fair/Square, einer gemeinnützigen Forschungs- und Interessenvertretungsorganisation mit Sitz in London, die sich auf Arbeitsmigration spezialisiert hat. „Es gibt eindeutig ein Problem mit der Art und Weise, wie Todesfälle in den VAE und in der Golfregion im Allgemeinen untersucht und bestätigt werden“, fügte er hinzu. „Das Hauptproblem ist, dass die Bürokratie diese Dinge unter den Teppich kehrt, vor allem wenn es sich bei dem Opfer um eine gering qualifizierte Person handelt18.
Die VAE verbieten auch die Gründung von Gewerkschaften, was es erschwert, einen stärkeren Arbeitsschutz zu fordern19. Neben dem Verbot von Gewerkschaften behindert die Undurchsichtigkeit der Regierung in Bezug auf Gesundheitsdaten die Forschung, und Akademiker:innen und Journalisten:innen neigen zur Selbstzensur, um Repressalien zu vermeiden. Es gibt keine Bundesgesetze, die Arbeitgeber:innen dazu verpflichten, eine Krankenversicherung für ihre Mitarbeiter anzubieten. Nur in Dubai und Abu Dhabi gibt es Gesetze, die eine Krankenversicherung vorschreiben, was aber umgangen wird20.
Ein weiteres Problem sind die Hindernisse, mit denen sich gering bezahlte Wanderarbeiter:innen beim Zugang zur Gesundheitsversorgung konfrontiert sehen: hohe Kosten für medizinische Behandlungen und das Fehlen eines ordnungsgemäßen Nachweises ihrer Identität. Die Tatsache, dass gering bezahlte Wanderarbeiter:innen, die keine Notfälle sind, keinen einfachen Zugang zu Gesundheitsdiensten haben, wirkt sich nachteilig auf die allgemeine körperliche und geistige Gesundheit dieser Bevölkerungsgruppe aus und ist wahrscheinlich ein wesentlicher Faktor sowohl für die hohe Zahl der vermeidbaren als auch für die hohe Rate ungeklärter Todesfälle21.
Die Löhne sind vergleichsweise hoch aber stehen kaum im Verhältnis zu den hohen Risiken der Arbeit, die gering qualifizierte Wanderarbeiter:innen verrichten. „Ingenieure werden gut bezahlt, aber gering qualifizierte Arbeiter:innen wirklich nicht“, sagte ein Ingenieur. „Es mag besser sein als in anderen Branchen, aber angesichts der intensiven Arbeit, die geleistet wird, ist es immer noch extrem ausbeuterisch“22.
Hinzu kommt, dass Löhne von Drittfirmen, die im Auftrag von Adnoc arbeiten, häufig nicht, oder nicht vollständig ausgezahlt werden. Varun Jangir, ein Wanderarbeiter auf Gasfeldern und Offshore-Anlagen in den Emiraten, arbeitet seit etwa zehn Jahren für einen Drittunternehmer. Sein Monatsgehalt beträgt 1.700 AED (460 $), aber er erlebt regelmäßig Lohnverzögerungen. „Ich wurde noch nie von dem Unternehmen, für das ich arbeite, direkt eingestellt, sondern wir werden immer nur von unserer Agentur vermietet“, sagt er. „Ich weiß nicht, ob es besser ist, für große Unternehmen zu arbeiten, ich habe es nie erlebt, aber ich weiß, dass es niemanden kümmert, ob wir bezahlt werden oder nicht, ob wir leben oder sterben, und unser Arbeitgeber wird nicht einmal wegen unseres Todes in Schwierigkeiten kommen“23.
Darüber hinaus sind Wanderarbeiter mit anderen weit verbreiteten Arbeitsmissbräuchen wie Lohndiebstahl, illegalen Vermittlungsgebühren und der Beschlagnahme von Pässen konfrontiert. Human Rights Watch befragte zwischen Mai und September 2023 73 derzeitige und ehemalige Arbeitnehmer in den VAE sowie 42 Familien von derzeitigen Wanderarbeitern aus Pakistan, Bangladesch und Nepal. Mit einer Ausnahme haben alle exorbitante Einstellungsgebühren gezahlt, die sie in erster Linie durch Kredite zu räuberischen Jahreszinsen von bis zu 50 % oder durch den Verkauf von Vermögenswerten wie Vieh finanzieren. In der Folge müssen die Arbeitnehmer einen großen Teil ihres Gehalts aufwenden, um die Schulden zurückzuzahlen, was Monate oder sogar Jahre dauern kann24.
Ein Bericht der Weltbank hat gezeigt, dass die hohen Anwerbungskosten für die ärmsten Haushalte ein erhebliches Hindernis für die Auswanderung darstellen.
Das Herzstück, das solche Missbräuche ermöglicht, ist das missbräuchliche Sponsoring- oder Kafala-System, das die Visa an die Arbeitgeber bindet und die Arbeiter:innen sehr erpressbar macht, wegen der Einschränkung der beruflichen Mobilität und der Beschlagnahmung von Pässen25.
Hausangestellte sind – ebenso wie Hirt:innen, Kamelhirt:innen und Landarbeiter:innen – vom Arbeitsrecht der VAE ausgenommen und sind noch stärker von Ausbeutung bedroht. Sie werden bei der Arbeitsvermittlung oft mit falschen Versprechungen über verschiedene Tätigkeiten getäuscht, sind mit Lohndiebstahl konfrontiert und arbeiten oft unter isolierten und manchmal unmenschlichen Bedingungen.
Obwohl das Arbeitsrecht der VAE alle Formen der Zwangsarbeit ausdrücklich verbietet und unter Strafe stellt, bringen die grassierenden Missbräuche wie Verschuldung, Passbeschlagnahmung und Unbeweglichkeit am Arbeitsplatz die Wanderarbeiter:innen in eine äußerst prekäre Lage, die in vielen Fällen auf Zwangsarbeit hinausläuft26.
Anders sehen die Arbeitsbedingungen für Migrant:innen am anderen Ende der Lohnskala aus. Adnoc heuert in aller Welt Expert:innen an und scheut keine kulturellen Grenzen27 um den Wandel des Unternehmens voranzutreiben. In den ersten 9 Monaten des Jahres 2023 hat Adnoc allein mehr als 3.370 Mitarbeiter, darunter 28 leitende Angestellte, von Unternehmen wie globale Energiekonzerne, Handelshäuser, Banken und Beratungsfirmen abgeworben, wie aus den Daten des Jobnetzwerks LinkedIn hervorgeht28.
Um generalstabsmäßig zu expandieren, eiste Al Jaber z.B. den italienischen Ölmanager Michele Fiorentino bei BP frei und machte ihn zu Adnocs Chief Investment Officer (CIO). Mittlerweile macht ein Deutscher diesen Job. Klaus Fröhlich, ein Ex-Investmentbanker, der jahrelang für Morgan Stanley in Frankfurt und anderswo Deals eingefädelt hatte und sich im Adnoc-Tower eine schlagkräftige Crew aus ehemaligen Bankern und Ölmanagern zusammengestellt hat.
„Das ist eine hausinterne Investmentbank“, sagt einer, der Fröhlich gut kennt. „Die Truppe besteht überwiegend aus westlichen Ausländern, denen Abu Dhabi eine Menge bietet: gute Schulen, ein perfektes Gesundheitssystem, viel Sicherheit, kaum Steuern. Adnoc ist die dynamischste der staatlichen Ölgesellschaften am Golf“29. Nicht zu vergessen: preiswerte, rechtlose und erpresssbare Hausangestellte entlasten von der nervigen Hausarbeit.
Weltweite Investitionsstrategie
Dem Konzern gehören zwar fast alle Öl- und Gasreserven der Vereinigten Arabischen Emirate, doch auf der Agenda steht Diversifizierung. Al Jaber hat das Ziel, Adnoc auf eine breitere Basis zu stellen: Seit einigen Jahren plant er, das Geschäft in den Bereichen Erdgas, Chemikalien und saubere Energie weltweit auszubauen.
Er will aus Adnoc einen der fünf größten Chemiekonzerne weltweit machen. Damit verlängert er gleichzeitig die Wertschöpfungskette, hat dannalso Großabnehmer für Öl, Gas und zunehmend auch Wasserstoff im eigenen Haus30.
Die Verflechtung mit westlichen Unternehmen ist bereits weit fortgeschritten und betrifft vor allem die Petrochemie, deren Produkte auf Erdgas und Erdöl basieren – also dem, was Abu Dhabi im Überfluss hat. Adnoc hat sich mit knapp 25 Prozent an Österreichs OMV beteiligt. Gemeinsam beherrschen sie den Kunststoffkonzern Borealis, der fast zehn Milliarden Euro umsetzt und Europas zweitgrößter Produzent von Polyolefin-Kunststoffen ist. Stoffe, die zur Herstellung von Folien, Plastikverpackungen, Flaschen oder Schaumstoffen benötigt werden31.
Adnocs „Kriegskasse“ beziffern Kenner auf rund 150 Milliarden Dollar. Sie speist sich aus den Öl- und Gaseinnahmen, Börsengängen wie der Tochter Adnoc Distribution oder den Zuwendungen finanzstarker internationaler Partner, die sie in den vergangenen Jahren an Bord geholt haben. Adnoc hat Anteile seiner Pipeline-Infrastruktur an US-Finanzinvestoren wie Blackrock und Kohlberg Kravis Roberts & Co (KRR) sowie den Singapurer Staatsfonds GIC verkauft; die europäischen Ölkonzerne Eni aus Italien und OMV aus Österreich beteiligten sich an Adnocs Raffineriegeschäft32. Letztes Jahr erwarb Adnoc eine Beteiligung an einem Aserbaidschanischem Ölfeld33.
Der Covestro Deal
Adnoc will auch einer der fünf größten Chemiekonzerne der Welt werden. Dafür will der Konzern den Leverkusener Kunststoffhersteller Covestro34mit aktuell 17.500 Beschäftigten an 48 Standorten weltweit und 14,4 Milliarden Euro Jahresumsatz erwerben35. Adnoc arbeitet so weiter daran, seine Produktpalette jenseits von Öl und Gas zu erweitern. Dabei setzt das Unternehmen auch auf seine klaren Kostenvorteile36.
Covestro zählt zu den weltweit führenden Kunststoffherstellern. Es beliefert nach eigenen Angaben „rund um den Globus Kunden in Schlüsselindustrien wie Mobilität, Bauen und Wohnen sowie Elektro und Elektronik“. Außerdem würden die Kunststoffe in Bereichen wie Sport und Freizeit, Telekommunikation, Gesundheit sowie in der Chemieindustrie selbst eingesetzt.
Das Unternehmen ist aus der Kunststoffsparte der Bayer AG hervorgegangen. 2015 hatte Bayer die Sparte abgespalten, weil der Konzern sich auf Medikamente und Agrarchemie konzentrieren wollte, und hält seit 2018 keine Covestro-Aktien mehr37. Jetzt geben internationale Großinvestoren wie BlackRock, die Bank of America oder Norwegens Pensionsfonds den Ton an, denen es vorrangig um einen satten Aufschlag auf den aktuellen Kurs der Covestro-Aktie gehen dürfte38.
Bedingung für die Übernahme ist, dass Adnoc mit seinem Angebot von 62.- € pro Aktie mehr als 50 % der Aktien erwerben kann. Damit würde erstmals ein arabisches Staatsunternehmen bei einem westeuropäischen Großunternehmer nicht nur Anteilseigner, sondern hielte die komplette Macht. Bis zum 7. November hatte sich der Konzern 10,4 % der Aktien gesichert (KStA 8.11.2024).
Vorstand und der Aufsichtsrat von Covestro empfehlen den Anteilseignern Anfang November 2024 noch einmal ganz klar, die Übernahmeofferte anzunehmen. Demnach sollten die Aktionäre bis spätestens 27. November ihre Aktien an die Abu Dhabi National Oil Corporation andienen. Schließlich entspreche das Angebot in Höhe von 62,- € einem satten Aufschlag von über 50 % auf den Covestro-Kurs vor den ersten Meldungen über das Interesse aus den Emiraten39.
Allein für die Covestro-Aktien muss Adnoc bis zu 11,7 Milliarden Euro hinlegen, eine Kapitalerhöhung kommt noch dazu. Einschließlich der Schulden von drei Milliarden Euro muss der Konzern aus den Vereinigten Arabischen Emiraten also fast 16 Milliarden Euro finanzieren40.
In NRW beschäftigt Covestro 7.000 Angestellte, die meisten (3.800) davon am Hauptsitz in Leverkusen. Der Standort soll die Zentrale von Covestro bleiben. 1.900 weitere Beschäftigte arbeiten in Dormagen, 1.100 am Standort Krefeld41.
Keine fünfzig Kilometer von der Covestro-Zentrale in Leverkusen-Wiesdorf liegt der Flughafen Düsseldorf, zum Kölner Flughafen sind es gerade mal 20. Beide Flughäfen haben seit Ende Oktober 2024 neuerdings Direktflüge in die Emirate im Angebot. Eurowings fliegt dreimal wöchentlich von Köln nach Dubai, Ethitat, die staatliche Airline der VAE, dreimal wöchentlich von Düsseldorf nach Abu Dhabi42.
Dass die neuen Eigentümer völkermörderische Kriege im Sudan, im Yemen, in Libyen führen und die tödlichen Arbeitsbedingungen der Kolleg:innen auf der arabischen Halbinsel, all das scheint im Rheinland nicht zu interessieren.
4Upstream bezieht sich auf Erkundung und Förderung von Erdöl und Erdgas Midstream ist der Transport und die Lagerung von Rohöl und Erdgas Downstream bezeichnet die Umwandlung von Rohöl und Erdgas in verschiedene Fertigprodukte
7. As Europe searched for quick replacements for Russian gas last year, several countries turned to UAE to cover their needs, including France, Germany and Austria
11Scheich Muhammad bin Zayid, der Emir von Abu Dhabi und seit 2022 Präsident der VAE, ist Chairman of the Supreme Petroleum Council. The Supreme Petroleum Council, formed in 1988, is the highest governing body of oil, gas, and similar industry-related activities in UAE. The council is tasked with supervising all oil and gas companies that operate in the UAE and acts as the board of directors for Adnoc
34Bayer hatte die Sparte 2015 abgespalten, weil der Konzern sich auf Medikamente und Agrarchemie konzentrieren wollte, und hält seit 2018 keine Covestro-Aktien mehr. Jetzt geben internationale Großinvestoren wie BlackRock, die Bank of America oder Norwegens Pensionsfonds den Ton an, denen es vorrangig um einen satten Aufschlag auf den aktuellen Kurs der Covestro-Aktie gehen dürfte (DER SPIEGEL 39/2023 )