Hydra, das ist für uns die Erinnerung an Aufbrüche und Bewegungen der sozialen Revolution in der neueren Geschichte. An die Bewegungen, die von den Kämpfen im England des 17. Jahrhunderts ihren Ausgang nahmen, sich mit den Kämpfen der Sklav*innen in den drei Kontinenten verbanden und sich mit den Unterwerfungsstrategien des aufkommenden Industriekapitalismus konfrontierten. Hydra, das ist für uns die weltweite Bewegung der Bäuer*innen vor allem in Russland und Mexico, die sich als soziale Revolution einer neuen kapitalistischen Offensive zur Unterwerfung der Welt unter das Regime der Massenproduktion im 20. Jahrhundert entgegensetzten und erst in zwei blutigen Weltkriegen zurückgedrängt werden konnten. Hydra, das sind die Bewegungen, die sich erneut den zerstörerischen und vernichtenden Kräften des Kapitalismus entgegenstellen, die die Diktate zur Umgestaltung der globalen Gesellschaft mit Hilfe neuer Technologien in jeden Winkel der Welt zu treiben versuchen. Da sich diese auf jeden Aspekt des Lebens richten, sind Bewegung und Widerstand manchmal gar nicht als solche zu erkennen und müssen mit großer Aufmerksamkeit erspürt werden. So ruft die Steigerung der Produktivität in allen Bereichen von Produktion und Wertschöpfung zugleich eine Entwertung von Arbeit und Leben weltweit hervor.
Dieser Entwertung, gekoppelt an blutige militärische Zerstörung durch neue Eliten, die sich davon eine Steigerung von Macht und Reichtum erwarten, setzen sich vielfältige Prozesse der Selbstbehauptung und Migration entgegen, und zwar in allen Regionen der Welt. So sind die binnenafrikanische Migration und die Migration aus Afrika nach Europa ein Weg, das eigene Überleben und dasjenige der zurückgelassenen Verwandten und Familien zu sichern. Dagegen richtet Europa eine zusammenhängende Zone gewalttätiger Migrationskontrolle ein, die die Grenze zum Genozid bereits überschritten hat. Zugleich rufen die Akteur*innen des europäischen Regimes in ihren Ländern systematisch einen nach außen gerichteten Rassismus auf. Er nährt sich zum Teil aus den Ressentiments der alten Mittelschichten, die sich durch die technologische Offensive ins Abseits gedrängt fühlen.
In diesem wirklich fabelhaften Universum entstehen glücklicherweise einige klarsichtige Bewusstseinsformen, Subversions- und Konfrontationsbestrebungen – eine Hydrarchie von Prekären, Ausgestoßenen und Entgrenzten. Ihre Ursprünge, ihr Bewegungsradius und ihr Bewusstsein sind weltumfassend, selbstständig und kreativ. Allianzen werden gewoben, Migrant*innen besetzen Plätze und Gebäude, machen ihre Existenz und ihre Erfahrungen sichtbar, Frauen organisieren sich gemeinsam, um den Wert ihrer Arbeit, ihrer Stimme und ihres Lebens einzufordern. Im größeren Zusammenhang können politische Reformen oder Polizeigewalt politische Eruptionen massiven und überraschenden Ausmaßes zur Folge haben. Große Infrastrukturprojekte bringen mitunter freie Kommunen ebenso wie spürbare Veränderungen in ganzen Gebieten hervor. Gewisse Treffen der Führer dieser Welt enden im Scheitern eines tausende Polizist*innen umfassenden Sicherheitsapparats und der regelrechten Verwüstung hochgerüsteter Metropolen.
Welche Formen nimmt Hydra, welche Formen nehmen sozialrevolutionäre Bewegungen in der Auseinandersetzung mit den neuen Kräften der Zerstörung, Entwertung und des Mordens an? Welche Chancen haben sie? Da es sich um einen historisch neuen Prozess gegeneinander gerichteter Kräfte handelt, der Kräfte der Befreiung und der Kräfte der Unterwerfung, werden wir beide aus dem Geschehen der Konfrontation heraus begreifen müssen. Perspektivischer Ausgangspunkt ist und bleibt für uns immer die Manifestation der Subjekte und ihrer Subjektivität in der Auseinandersetzung mit den Strategien des Kapitalismus. Diese Konfrontation ist es, die auch dem zugrunde liegt, was wir „Krise“ nennen: eine Bewegung der Autonomie und Befreiung, die die Kräfte der Unterwerfung und darum auch der Inwertsetzung und Ausbeutung blockieren. Alle Darstellungen im Rahmen unseres Projekts müssen letztlich auf diese Konfrontation bezogen und aus ihr begriffen werden. Wir können daher nicht den Anspruch erheben, thematische Komplexe umfassend und abschließend darzustellen. Vielmehr werden wir die Facetten dieses antagonistischen Sozialprozesses beleuchten.
Wir beginnen das erste Heft unseres Projekts mit dem Blick auf Migrationsprozesse in und aus Afrika und ihren Hintergründen sowie der sozialen Situation in Nordafrika und im Nahen Osten als Ausdruck der Entwertung von Arbeit und Lebenszusammenhängen. Es folgt die Darstellung der mörderischen Gegenstrategien aus der EU in der Errichtung eines „cordon sanitaire“ militarisierter Sozial-, Migrations- und Investitionspolitik, der zugleich auf eine neue Welle der Durchdringung und Inwertsetzung Afrikas abzielt. Wir fokussieren Zonen mörderischer, ja bereits völkermörderischer Politik in und an den Rändern dieses Cordons. Hier beleuchten wir eine osmotische Stelle der Regulation des Migrationsprozesses in der Ägäis und die Transformation der Migrationspolitik auf dem Balkan nach der Zerstörung der Balkanroute. Wir versuchen Äußerungsformen der sozialen Revolution zu erspüren, die die Migrant*innen aus ihren afrikanischen Gesellschaften in die Auseinandersetzung im Cordon hineintragen. Wir behandeln die Frage: Ist Migration als solche sozialrevolutionär? Wir werfen auch einen Blick auf die Vision und Einfluss von Technologiegiganten auf das soziale Netz und die unternehmerische Welt Afrikas – eine Entwicklung, die in den nächsten Jahren und Jahrzehnten sich weiter zuspitzen wird. Entgegen der Ausrufung des neuen Start-Up-Himmels in Afrika beschäftigten wir uns mit den Widerstandspotentialen des Afrofuturismus, einer künstlerisch-politischen Bewegung, die diese Unterdrückung thematisiert und deren Einflüsse es bis in die Popkultur geschafft haben. Schließlich versuchen wir den Beginn einer Auseinandersetzung darüber, wozu diese Situation eine sozialrevolutionär orientierte Linke im Herzen der Bestie herausfordert.
Unser Magazin ist ein Versuch, neben vielen anderen Projekten, die Kämpfe des 21. Jahrhunderts zu begleiten, sichtbar zu machen und – hoffentlich – das eine oder andere Mal mit zu befeuern. Neben Dossiers zu einzelnen Schwerpunkten, die unregelmäßig erscheinen sollen, möchten wir mit der Abteilung Fresh unserem Wunsch nach Aktualität Ausdruck verleihen – in Form von Kommentaren, Veranstaltungsberichten, Aktionsaufrufen und Gastbeiträgen. Einige von uns haben an den „Materialien für einen neuen Antiimperialismus“ mitgearbeitet, die aus der Zeitschrift „Autonomie“ hervorgegangen ist. Viele von uns sind aktiv in aktuellen Kämpfen – ob lokal auf sozialen Kampfbaustellen gegen Verdrängung und für ein anderes Miteinander oder transnational gegen die Krisenlabore dieser Welt. Wie verlorene Kinder leben wir immer noch in unseren unvollendeten Abenteuern – aber wir wollen partout nicht aufgeben. Wir sehen uns in dieser Kontinuität, werden Ansätze mit fortentwickeln und uns weiterhin neben den anderen Teilen der Hydra ins Getümmel für die soziale Revolution stürzen.
Contact: the-hydra at riseup.net