Dies ist ein erster Versuch, die Bewegung der gilets jaunes zu verstehen und sie auf den Kontext übergreifender Zusammenhänge zu beziehen. Wir müssten nun, unseren sozialrevolutionären Grundsätzen und Methoden folgend, an den Äußerungen aus dieser Bewegung anknüpfen um von hier aus das Verhältnis zu ihrem Umfeld erschließen. Denn so sehr sie ihre Gewänder aus der Geschichte auszuborgen scheint, so sehr gehört sie dem postfordistischen Frontgeschehen an.
Der Grund, warum wir anders verfahren, ist vielmehr das Verständnis der Betrachter*innen, das sich oft aus überkommenen, manchmal sogar rückständigen Vorstellungen speist und uns so den Blick versperrt. Wie etwa hergebrachte Vorstellungen der Zentralität der Arbeiter*innenklasse, der soziologischen Wissenschaftlichkeit, des revolutionären Avantgardismus und dergleichen mehr. Daher wollen wir die Bewegung zuerst historisch und kontextuell verorten. Wir beziehen unsere Kenntnisse aus den Berichten der Freund*innen, die sich in die Kämpfe eingebracht haben, an erster Stelle aber aus dem äußerst verdienstvollen Lundimatinpapier 4, das der Verlag lundimatin schon auf dem Höhepunkt der Kämpfe unter dem Titel „gilets jaunes: un assaut contre la socété“ (gilet jaunes, ein Angriff auf die Gesellschaft) herausgegeben hat..
Die Bewegung der gilets jaunes (im folgenden GJ) ist eine Antwort auf den technologisch/ökonomischen Angriff, der mit dem Namen Silicon Valley verbunden wird und ausgiebig beicapulcu1 behandelt wurde. Darauf wird hier ausdrücklich verwiesen. Zentrales Thema der GJ-Bewegung ist die im umfassenden Sinn verstandene Entwertung der alten unteren Mittelschichten, ihrer Arbeit, ihrer Lebensressourcen und –bedingungen, ihrer relativen Autonomien und die damit verbundenen Demütigungen. Genau das aber hat seinen Ursprung nicht in Frankreich. Es war das ausdrückliche Ziel der Innovationsoffensive aus Silicon Valley im Sinne der vom Ökomomen Joseph Schumpeter als kapitalistische Bewegkraft analysierten „schöpferischen Zerstörung“. Dieser Angriff „schöpferischer Zerstörung“ galt zunächst dem im amerikanischen Korporatismus eingebundenen sozialen Spektrum aus Arbeiter*innen und unteren Mittelschichten. Er galt ihren Arbeits- und Lebensformen, er galt ihrer Identität.2 Es war diese Offensive, die dann von Gerhard Schröder durch die „Agenda 2010“ in die BRD verlängert wurde, als Keim eines europäischen Vorstoßes, bis sie u.a. schließlich von Macron im Dienste der französischen Unternehmerschaft aufgegriffen wurde. Daher verfehlt ein Versuch, den Kampf der GJ als Ausdruck eines innerfranzösischen Konflikts oder gar eines innerfranzösischen Klassenkonflikts dazustellen, vollends diesen übergreifenden Zusammenhang. Er ist das Resultat einer französischen Selbstbezüglichkeit, die die Außenstehenden bei aller Liebe zu Frankreich und aller Bewunderung für seine kulturellen Leistungen immer wieder in großes Erstaunen versetzt. Nicht einmal die GJ tun das. Sie erklären korrekt die global übergreifenden Diktate der Finanzmärkte, der Globalisierung etc. zu den Urhebern.
Wenn sich die GJ als Opfer des neuen Reichtums verstehen, dann muss man wissen, dass auch er aus der technologischen Innovationsoffensive geschöpft wird. Denn er verdankt sich den Produktivitätssteigerungen, die aus den neuen Technologien fließen (im marxistischen Verständnis „relativer Mehrwert“ genannt). Das gilt damit zugleich auch für die relative Entwertung der GJ und ihrer Lebensbedingungen, ihres sozialen „standings“ bzw. Status etc. Schröder und Macron sind also nicht die Urheber dieses Entwertungsangriffs. Sie sind nur die in ihren Dienst gestellten politischen Exekutoren, Lakaien also. Das ist es jedoch, was die Bedeutung der GJ im Frontgeschehen des globalen Antagonismus ausmacht.
Die GJ sind ein Glücksfall in Europa. Ihr Stolz und das Selbstbewusstsein, mit dem sie sich den Entwertungsdiktaten Macrons entgegensetzen sind letztlich dem Umstand geschuldet, dass sich hier noch immer das Selbstverständnis des republikanische Citoy-enne-s ausprägt. Es beruhte auf einem sozialen Versprechen, mit dem die sozialrevolutionären plebejischen Kräfte der französischen Revolution aufgefangen wurden. Es wurde in der Geschichte immer wieder in Anspruch genommen Es ist in den Umhüllungen der jeweiligen Machformationen bis zu den fordistisch/korporatistischenen offenbar nicht erstickt worden. Es hat sie überdauert und wird jetzt ausdrücklichvon den GJ wieder in Anspruch genommen. So etwas gibt es nicht im übrigen Europa, vor allem nicht in Deutschland. Frühere historische Formationen in Deutschland mochten vielleicht noch Spuren des 1848er Aufbegehrens enthalten haben. Diese Spuren sind letztlich durch die willige Selbstüberantwortung aller Schichten, auch der Arbeitert*innenklasse, an die NS-Leistungsvolksgemeinschaft getilgt und ausgelöscht worden. Der Wille zur Freiheit und Gegenmacht gegen die Angriffe des Kapitalismus waren bis auf residuale Erinnerungen erloschen. Das erklärt auch das entwürdigende Ausbleiben einer Reaktion aus diesen Schichten auf die Bewegung der GJ. Diese Selbstentmündigung dauert an. Im Übrigen sollten sich Freund*innen der Arbeiter*innenklasse mit dem Verweis auf den Mittelschichtscharakter der GJ zurückhalten. Denn die Unterwerfungsstrategien im Fordismus reichten weit über die Arbeiter*innenklasse hinaus. Wenn nicht, wie wir argumentiert haben, der tradierte Klassenbegriff längst überholt war. Infolgedessen muss die soziale Revolution ihren Ausgangspunkt nicht gerade bei den Arbeiter*innen nehmen.
Für das Selbstverständnis der GJ beziehe ich mich in der gebotenen Kürze auf die Berichte der kämpfenden Freund*innen. Vor allem aber auf das LundiMatin-Buch und hierin auf das Interview mit Michalis Lianos. Sein Wert kann gar nicht überschätzt werden. Für seinen Abdruck gebührt der lm-Redaktion große Anerkennung. Lianos hat seine Erkenntnisse als „teilnehmender Borobachter“ in den Kämpfen gewonnen (wie schon zuvor in Griechenland). Ich selbst habe ihnen nichts hinzugefügt. Meine Formulierungen sind (wo nicht anders kenntlich gemacht) weitgehend sogar Überersetzungen wörtlicher Zitate.
Der Kern oder vielleicht die Quelle der Einstellungen der GJ ist die Wusch, unabhängig zu bleiben, ihre gewohnte Selbstständigkeit und Autonomie nicht zu verlieren. Darum jede Verweigerung der (Selbst-)Proletarisierung. Der Garant hierfür ist die Arbeit. Sie gibt ihnen die relative Unabhängigkeit. Daher lehnen sie jede Abhängigkeit vom Staat und öffentlichen Trägern ab. Arbeit ist der Sockel für Selbstwertgefühl, Wert und Würde und Stolz. Sie ist die Versicherung dafür, nicht zur Seite geschoben zu werden. Die Abhängigkeit vom Staat nennen sie „Assistanat“, den Status des „Stützentums“ (Abhängigkeitt von der „Stütze“), der (eigene Bewerkung) sich in so fatal bei der Aufrechterhaltung der Subalternität der Bedürftigen auswirkt. Weitere eigene Bemerkung: Diese Einstellung ist bedeutsamer, als es zunächst erscheint. Kenner des Revolutionsgeschehens im 20. Jahrhundert, aber auch Anarchist*innen wissen: Kraftquell der bäuerlichen Revolutionen in Russland, China, Mexiko, ja sogar Japan war die Selbstständigkeit und Kompetenz der bäuerlichen Familienwirtschaften in der Bodenbearbeitung.3
Ähnlich wie dort war es nicht die eigene Forderung nach Reichtum, in der sich diese Orientierung äußerte. Die Wünsche der GJ sind bescheiden: Ernährung, Miete (für die in bescheidenen Gegenden belegenen Wohnungen), Benzin für die von den Unternehmen abgezwungene Mobilität und die Möglichkeit, einmal im Monat mit der Familie ins Kino zu gehen und danach in ein bescheidenes Restaurant. All das erklärt auch die Orientierung an der Kaufkraft und die Forderung nicht etwa nach Lohnerhöhung, sondern der Beseitigung der steuerlichen Beeinträchtigung. Es erklärt auch die Tatsache, dass die Einschränkung des Einkommens als Erniedrigung erlebt wird.
Die GJ sehen den aus dem Fordnismus überkommenen gesellschaftlichen Konsens als durch den „Verrat der Eliten“ zerbrochen. Es sind Eliten, die aus ihnen „Nichtse machen wollten“. Aufgrund der damit verbundenen Aufkündigung der alten Formen politischer Repräsentation imaginieren sie sich in einer direkten Beziehung zur französischen Gesellschaft als „ihr Herz“. Sie praktizieren und propagieren eine direkte Demokratie unter radikaler Ablehnung von internen Hierarchien und Entscheidungs- bzw. Kompetenzzentren. Das erklärt auch, dass sie den Konflikt hartnäckig unmittelbar an den Ort tragen, an dem der Staatsapparat bzw. die Eliten in Paraden, Militärshows etc. ihren Machtanspruch demonstrieren: den Champs Elysèes. Ihre Zusammengehörigkeit sehen sie als „Solidarität“, ja sogar als familiäres Gemeinschaftsgefühl.
Grundsätzlich lehnten sie ursprünglich Gewalt von ihrer Seite zunächst ab, weil sie ja gerechte Ziele verfolgten und waren nur von der Gewalttätigkeit der Polizei und dem geifernden Hass schockiert, der ihnen aus den Medien entgegenschlug.
In ihrem „theoretischen“ Verständnis waren sie einigen Unterstützer*innen sogar voraus, wenn sie das System, die Finanzmärkte, die Globalisierung als Urheber ihrer Situation darstellten.
Uns selbst erscheint die Darstellung der GJ, die Eliten suchten aus ihnen „Nichtse“ zu machen, als außerordentlich interessant, und analytisch als geradezu hellsichtig. Denn LM hat im letzten Jahr einen Artikel unter dem Titel „L’histoire du dégout“ abgedruckt, in dem gerade dies – die Verwandlung des sozialen Status zu „Nichts“ – als Signum des postfordistischen Unterwerfungsangriffs dargestellt wird: Die Produktion des „sozialen Nichts“ erschien darin auch als Grund und Ausdruck der erbitterten Kämpfe beim G20-Kongress in Hamburg. Wie werden dem an dieser Stelle in Zukunft weiter nachgehen.
Die Schussfolgerungen aus den hier dargestellten Befunden sollen der Debatte vorbehalten bleiben, für die wir diesen blog als einen geeigneten Ort anbieten. Eins möchten wir jedoch anregen. Es sollte intensiv nach Mitteln und Wegen gesucht werden, Verbindungen zwischen den Bewegungen in Deutschland (gegen die Klimakatastrophe, gegen Vertreibung etc.) und den GJ herzustellen. Zur gegenseitigen Bereicherung und Schaffung einer europäischen sozialen Front. Diese Chance darf nicht verspielt werden.
1 Capulcu-Kollektiv, „Disrupt“ in: https://capulcu.blackblogs.org . Vgl. auch D. Hartmann, Krisen, Kämpfe, Kriege, Band 1/Alan Greenspans Endloser „Tsunami“/Eine Angriffswelle zur Errneuerung kapitalistischedr Macht, Berlin, Hamburg 2015, S. 9 ff., 66 ff., et passim.
2 Ebd.
3 D. Hartmann, Krisen, Kämpfe, Kriege, Bd. 2/ Innovative Barbarei gegen soziale Revolution/ Kapitalismus und Massebgewalt im 20. Jahrhundert, Berlin, Hamburg 2019., Kap. 1 et passim.