Die Perle unserer1 Besetzungsaktivitäten war zweifellos die „Zülpi“, da wird mir jede“r) meiner Freund*innen vorbehaltlos zustimmen. „Zülpi“ steht für „Zülpicher Straße Nr. 97“. Die Zülpicher Straße ist eine der typischen von Kölns Römerzeit geprägten Radialstraßen, die von Köln wirklich zu dem zig Kilometer entfernten „Zülpich“ hinführt. Nr 97 war ein seit Jahren leerstehendes für Kölner Verhältnisse (Köln ist eine Mäusestadt mit einem grotesk-gigantischen Dom) ungewöhnlich großes Wohnhaus mit 22 Wohneinheiten mit einem wesentlich kleineren Nebenhaus) Es war schon einmal „symbolisch“ mit der Absicht besetzt worden, auf den Skandal des Leerstands hinzuweisen. Wir dachten, „symbolisch“ reicht nicht, das geht der Stadt am Arsch vorbei. Und so besetzten wir das Haus am Freitag Abend, dem 15. Dezember 2015 in Besetzer*innen-Routine, quasi nach virtuellem Handbuch: Transpis raus, bewohnbar machen (Strom, Wasser etc.), Tür befestigen, Unterstütz*innen mobilisieren, Presse:etc.etc.
Die Schmier (so heißt die Polizei in Köln) war sofort da, in Gestalt der Robos und zwar in voller Montur mit Folterbesteck. Als sie begann, die rot/weißen Absperrbänder um die Zülpi rumzuziehen, war klar, was das hieß. Es kam zunächst die Aufforderung, das Haus zu verlassen. Wir forderten dagegen Verhandlungen mit dem Eigentümer, die Polizei gestand sie zu aber erst morgen, wenn wir jetzt sofort aus dem Haus gingen. Soweit so Schema XY, das kennen alle Besetzer*innen, warum erzähl ich das überhaupt? Darum:
Wir gingen nicht raus Und das hieß eigentlich: Wenig zarte Robo-Räumung, wahrscheinlich mit Verletzungen. Aber das war eine Rechnung ohne den Wirt. Der Eigentümer war noch immer traumatisiert wegen des einen Todes einer Passantin durch ein herabfallendes Fenster. Er scheute weiteres Blut auf seinem Haus. Die Robos zogen also unverrichteter Dinge äußerst missmutig ab (Erst holt man uns und dann is nix…).Das heißt lange noch nicht, dass wir drin bleiben konnten. Aber Weihnachten stand bevor und es kam darauf an, die Sache möglichst an das Fest der Liebe und des Wohlgefallens auf Erden ranzuschieben. Das gelang mit Haken, Ösen und Tricks, die hier langweilen würden. Und so hieß es, als sich der Geruch von Liebe, Rievkoche (Reibekuchen=Kartoffelpuffer) und Bratäpfeln unabweisbar verdichtete: „Vor Weihnachten wird nicht geräumt“. Wir hatten gewonnen, denn dann es zog es sich. Ich will damit niemanden langweilen.
Wir und die mit uns befreundeten Linken hätten so ein großes Objekt niemals nutzen können und auch nicht wollen. Mit Hilfe einer den Notleidenden gegenüber wohlwollenden Kontaktperson in der Verwaltung und eines bekannten Ratsmitglieds ist es uns nach rund sechs Monaten Besetzung gelungen, eine Superlösung zu erreichen. Die Stadt trägt die Kosten der Sanierung und erhält d as Haus für 30 Jahre zur Pacht. Die Wohnungen werden an geflüchtete Mütter mit Kind(ern) zu einem Mietzins vermietet, der durch Sozialhilfe voll getragen wird, sodass die Geflüchteten keine Kosten haben. Und das Bonbon für uns: Wir kriegten das Nebenhaus für wohnungslose Genoss*innen und linke Veranstaltungen. Ein Fest nach einem Jahr bewies uns: die Familien waren glücklich. Also alles rundum paletti, Zeit für die Besetzer*innenrente. Aber:
Die größte Antiperle, das traurigste, bis heute schwärende schwarze Loch in der jahrelangen Kette der „Wohnraum-für alle“-Besetzungen war Karthäuserwall 6, ein zweistöckiges Haus im angesagten Severinsviertel mit schönen Räumen und am mittelalterlichen Stadttor. Das Haus war nicht baufällig, sondern kerngesund. Das Recht zur Kündigung und die darauffolgende Abrissgenehmigung wurde nur mit unzureichender Verwertungsmöglichkeit gegenüber der geplanten Bebauung begründet. Das „Recht“ tut das und dafür gehört es zur Rechenschaft gezogen. Die Besetzung war kunstgerecht wie immer und das Fest der Besetze*innen und Anwohner*innen bis tief in die Nacht sehr vergnüglich. Das Haus wurde drei Wochen lang gehalten, die Räumung und anschließende Zerstörung des Hauses waren bitter. Noch bitterer allerdings ist die Tatsache, dass das Grundstück viele Jahre danach noch immer nicht bebaut ist – eine hässliche zur Abwehr einer Besetzung (!) umzäunte leere Fläche. Der alljährliche Trauertag zum Gedächtnis treibt unseren Wutschaum zu den Ohren raus.
Der beschämendste Besetzungsversuch galt der seit Jahren leerstehenden Volkshochschule, zentral gelegenen, groß und im höchsten Maße lecker. Wir wollten viele Leute dabei haben und haben vorher ein Treffen im weit entfernten Naturfreundehaus mit vielen Besuchern veranstaltet., um von da aus mit der U-Bahn zum Objekt unserer Begierde zu fahren. Nun ist die Schmier auch nicht doof und hat vermutet, dass was amBach war und in Unkenntnis des Objekts jeden unserer Schritte verfolgt, soweit, bis es klar war. Als wir ankamen, stand da die Schmier und wir sahen reichlich belämmert aus. Dä !! Sagen die Kölner*innen dazu.
Die versöhnlichste Besetzung war die in Ossendorf in einem Wohngebiet von dem Knast (naja), aber gut in Schuss. Die Eigentümerin, eine Genossenschaft, wollte das Gebiet neu bebauen und aufwerten. Unsere Besetzung, wie oft mit Musik begleitet von Eva und Detlef, wurde von Robos postwendend mit Räumungsandrohung. Aber wieder einmal, der unbekannte Faktor. Auch der Genossenschafts-Chef wollte kein Blut aus seinem Vorhaben – Genossenschaften sehen sich ja im Reich des Guten. Nur: die Robos hatten uns eingekesselt und ließen den auch anwaltlich tätigen Detlef nicht zu ihm durch bis er gegen die gepanzerte Kette anrannte. Der Chef erklärte, er wolle ein Gespräch und so konnte der Oberrobo nichts machen. Ergebnis: Die Genossenschaft verspricht Mietverträge mit niedriger Miete für drei und sogar mehr Romafamilien und hat das Versprechen auch gehalten, sogar das „mehr“. Mehr hätten wir auch nicht rausholen können. Versöhnlich das Ganze, es hatte die kleine Feier verdient.
In all das waren weniger erfolgreiche Besetzungen eingestreut, deren Berichte hier nur runterziehen würden. Außerdem eine gut gelungene „Fette Mieten-Party“ in karnevalsartiger Verkleidung zur Sprengung der von einer affig gestylten (nicht gegen Affen !!) Maklern veranstalteten Wohnungsbesichtigung mit exorbitanten Mietvorstellungen. Das war gut getimed. Denn als wir abrückten, fuhr die Schmier an uns vorbei. Die Besichtigung platzte natürlich, wofür auch die anrückende Schmier sorgte. Ich sags doch, die Polizei, Dein Freund und Helfer.
Darüber hinaus haben wir mehrere so genannte „soziale Kampfbaustellen“ (Wortschöpfung einer Genossin mit vielen guten Einfällen) auf Kölner Grünflächen veranstaltet, um Menschen mit Sorgen kennen- und soziale Auseinandersetzungen einschätzen zu lernen. Bei einer wollten wir überausgebeutete Roma kennenlernen, die sich auf dem Tagelöhnerstrich verdingten und mit Frauen und Babies in Autos und Zelten lebten, sogar im Winter. Das klappte, die Diskussion war super und endete mit einem go-in im Rathaus, das die Roma unter Versprechen verließen, die nie gehalten wurden. Und mit einer anschließenden Demo auf dem Domvorplatz beendeten. Ihre Idee, wir hatten nix damit zu tun, staunten und freuten uns.
Das war der Auftakt zu einer gemeinsamen Besetzung in Köln-Mülheim, die aus rechtlichen Gründen (einige waren illegal schon länger drin und nicht geräumt worden, es brauchte also ein Räumungsurteil) und weil der schon angesprochene nette Mensch aus der Verwaltung diese Rechtsansicht mittrug. Das wiederum führte zu einem gemeinsamen go-in im Bezirksrathaus zwecks Ermöglichung von Anmeldungen, mit der Folge von Sozialleistungen, was vor allem den Kiddies zugute kam. So waren alle happy.
1 Wenn ich sage: „unsere“ oder „wir“ so heißt das: „Wohnraum für alle“ wurde von wechselnden namentlich unbestimmten Aktivist*innen wiederholt als eine Art Label benutzt, obwohl er eine oder andere schon lange Besetzungen durchführten.
So nennen wir unsere Bemühungen, in der Radikalität von Begriff und Widerstand dem Gewaltniveau des kapitalistischen Angriffs in der Stadt etwas entgegenzusetzen. Wir ziehen das dem Etikett „Recht auf Stadt“ vor. Denn die Berufung auf „Recht“ scheint uns unangebracht in einer Zeit, das „Recht“ ein zentrales Kampfmittel der Vertreibung darstellt und das Verlangen nach Teilhabe an der Stadt erst mal sagen muss, wessen „Stadt“ gemeint ist. Wir stellen nicht infrage, dass die Freund*innen, die dieses Motto benutzen, das selbst wissen. Aber wir möchten erst gar keine Unklarheiten aufkommen lassen.
Dieses Projekt beschäftigt sich mit den gegenwärtigen Formen der kapitalistischen Kampfstrategie in der Stadt. Sie geht weit über das hinaus, was sehr undeutlich als „Gentrifizierung“ bezeichnet wird. Vertreibung ist nicht bloß Resultat der privaten Profitgier. Sie ist das Ziel. „Austausch der Bevölkerungsqualität“ hieß das schon in der ersten Phase der „Gentrifizierung“ vor über 30 Jahren schon im etwas unbeholfenen Kölner Behördensprech. Was war damals der Grund und Hintergrund? Und was ist er heute.? Grob gesagt: Die sozialpolitischen Agenten des Kapitalismus passen die Stadt den strukturpolitischen Anforderungen von kapitalistischer Herrschaft und Ausbeutung an. Im Prozess der Profitmaximierung natürlich. Aber das ist ja immer so. Sie richten die Stadt erneut zu. Oder besser: die Stadtbewohner*innen. Wir werden dies im geschichtlichen Rückblick auf den Angriff der fordistisch/tayloristischen Strukturpolitik auf die Stadtbewohner*innen exemplarisch darstellen..Die Stränge, Komponenten und zeitgeschichtliche Dynamik dieser Zurichtungsoffensive sind das Thema der Ausgabe. Aus der Perspektive der Bewegungen von unten begreifen wir sie in ihrer übergreifenden Globalität bis in die Townships Südafrikas, also entsprechend unserem Plan mit dem Schwergewicht auf das europäische/afrikanische Gefälle.
Anonymer Interviewbericht mit einem Genossen in Minneapolis zum aktuellen Aufstand in den USA
Aus den USA erreichten uns eine schlechte Nachricht nach der anderen: Die Corona-Todesrate ist dort erheblich höher als in anderen Ländern. Ein größenwahnsinniger Präsident fordert die Bevölkerung dazu auf, sich Bleichmittel zu injizieren, rechte Milizen marschieren ungehindert in Parlamentsgebäude, um für die Wiedereröffnung von Geschäften zu demonstrieren und keiner leistete Widerstand. Dann plötzlich der alles auslösende Funke: der brutale Mord an George Floyd.
Überrascht dich das alles? Wie erklärst du dir die Aufstände?
Ja in gewisser Weise kamen die Aufstände sehr unerwartet. Persönlich hatte ich befürchtet, dass nach den weltweiten revolutionären Bewegungen von 2019 uns jetzt mit der Pandemie dunkle Zeiten erwarten würden. Aber gerade als wir im Begriff waren, die Hoffnung zu verlieren, haben uns die Ereignisse in den USA gezeigt, dass wir uns an einem Anfang befinden. Dass es so gekommen ist, hat viele gute Gründe. Das fängt schon damit an, dass die Bevölkerung wegen der COVID-19 Pandemie und den Quarantänemaßnahmen sehr viel stärker an das Internet gebunden ist als zuvor. Das Video vom Mord an George Floyd konnte sich viel schneller und viel umfangreicher verbreiten, als das normalerweise der Fall gewesen wäre und genauso war es auch mit der Nachricht, dass Proteste geplant werden. Dass die Menschen über Monate lang nicht mehr in Gruppen zusammenkommen konnten und dass sie menschlicher Berührung entbehren mussten, hat wahrscheinlich auch zur unvorhersehbaren Natur der Aufstände beigetragen. Ich glaube, dass die Leute einfach am Ende sind, nicht nur wegen der Pandemie, sondern auch wegen dem institutionalisierten Rassismus und der Unterdrückung gegen Schwarze, die sich jahrhundertelang ungehindert durchsetzen konnte. Seit Jahren demonstrieren die Leute für Gerechtigkeit und haben damit nichts erreichen können. Es ist also keine Überraschung, wenn ab einem bestimmten Punkt das Bitten aufhört und die Leute anfangen zurückzuschlagen.
Hattest du im Laufe der Tage den Eindruck, dass sich eine kollektive Intelligenz entwickelt hat oder eher nicht? Wie sprechen die Leute über die Aufstände, was verschweigen sie, welche Forderungen werden formuliert? Gibt es regionale Abweichungen? Was für verrückte Dinge sind passiert?
Ich bin mir nicht sicher, ob man sich anderswo über die Ausmaße der Ereignisse so richtig im Klaren ist. Die Proteste am ersten Tag erstreckten sich schon über anderthalb Kilometer zwischen dem Ort, an dem George Floyd ermordet wurde (38th Street und Chicago Avenue) und dem 3rd Precinct von Minneapolis (Polizeikommissariat im 3. Bezirk, Lake Street und Hiawatha Avenue). Mehrere Menschenansammlungen konnten sich oft ohne jegliche Polizeipräsenz zwischen diesen beiden Punkten bewegen. Die meisten Zusammenstöße passierten nahe der Polizeiwache, aber auch in der Umgebung gerieten die Dinge mehr und mehr außer Kontrolle. Am Ende des zweiten Tages hatten sich die Unruhen und Plünderungen schon mehrere kilometerweit in alle Richtungen verbreitet. Während die Polizei nicht in der Lage war, über den Bereich rund um die Polizeiwache hinaus vorzudringen, sind große Gruppen von Menschen in verschiedene Richtungen gezogen. Dabei stiegen sie in Geschäfte ein, machten überall Graffiti und legten Brände. Einige Leute sind in verschiedene Viertel gefahren und haben in kleinen Gruppen Geschäfte geplündert.
Am dritten Tag haben sich bereits mittags in Saint Paul – der Zwillingsstadt von Minneapolis – spontane Gruppen gebildet und angefangen zu plündern und später am gleichen Abend, als die Polizeikräfte dazu gezwungen wurden, sich aus der Polizeiwache zurückzuziehen, plünderten weitere Gruppen überall in der ganzen Stadt. Spät in der Nacht rückte Verstärkung von weiteren polizeilichen Einsatzkräften sowie der Nationalgarde heran und nahm die Gegend um das 3rd Precinct wieder ein. Ohne dass stark mobilisiert werden musste, sammelten sich am nächsten Tag viele Menschen rund um das 5th Precinct (Polizeikommissariat im 5. Bezirk), das sich fast anderthalb Kilometer weiter auf der Lake-Street befindet. Auch dort streiften Menschenmassen durch die ganze Nachbarschaft, während die Polizei sich darauf begrenzen musste, ihre eigene Wache zu verteidigen.
Das alles zeigt schlichtweg, dass den Ereignissen nicht wirklich räumliche Grenzen gesetzt waren. Sie verteilten sich über ganze Städte und sogar darüber hinaus. Es gab eine kollektive Intelligenz, die die Polizeikräfte zwang bei ihren Polizeiwachen bleiben zu müssen, während sich gleichzeitig die Proteste über ganze Bezirke verteilten und nicht zu kontrollieren waren.
Das Abgefahrenste, was ich gesehen habe, war wahrscheinlich, wie jemand ein geklautes Zustellauto von der Post mit voller Geschwindigkeit in die Barrikaden vor der verlassenen Polizeistation gefahren hat, bevor diese dann in Brand gesetzt wurde. Andere von uns haben gesehen wie Leute mit einem Tresor und Taschen voll Bargeld aus einer Bank kamen. Es werden auch Geschichten von Teenagern erzählt, die Freitagnacht in San Francisco in Sportwagen ein Diamantengeschäft nach dem anderen auf Union Square geplündert haben. Dabei wurden sie von der Polizei verfolgt, konnten ihr aber immer entkommen! Menschen aus der ganzen Welt fliegen da zum Einkaufen hin.
Was wir gerade erleben ist die größte Umverteilung von Reichtum in der modernen Geschichte der USA. Ich denke, das ist wunderbar.
Da viele Länder die Situation in den USA beobachten, ist die Hinrichtung von George Floyd nicht nur ein nationales sondern ein globales Ereignis. Es überrascht nicht, dass es überall in den USA zu Protesten kommt, allerdings scheint das Ausmaß und die Entschlossenheit der Proteste in anderen Städten genauso groß zu sein wie in Minneapolis. Warum ist das so? Konzentriert sich die Bewegung nur auf Großstädte oder gibt es auch Bewegungen außerhalb von ihnen?
Es ist absolut unglaublich, dass sich in so vielen verschiedenen Städten die Menschen dem Aufstand anschließen und dass sie überall eine solch militante Form annehmen. Das beschränkt sich auch nicht nur auf Großstädte – im Vergleich zu New York und Chicago ist Minneapolis nicht so groß. Es sind nicht nur Städte die aufbegehren, ich habe auch von Aufständen in kleineren Orten gehört. Hier in Minneapolis ist so viel passiert, dass es für uns hier schwierig ist genau zu verfolgen, was genau sich gerade alles woanders abspielt.
Ich bin mir nicht sicher, warum die Proteste auch in anderen Städten solche Ausmaße angenommen haben. Vielleicht weil alle überall einfach genug haben von der Polizeigewalt? Weil alle sich nach Menschenmengen sehnen? Weil alle auf ihre Smartphones schauen und sehen können, wie einfach wir die Polizei zum Rückzug zwingen konnten? Es gibt bestimmt eine marxistische Analyse dafür, die sich auf die Anzahl der Menschen bezieht, die wegen der Pandemie ihre Arbeit verloren haben und auf die zunehmende Prekarität. Das spielt da sicher auch eine Rolle.
Es ist schwer zu sagen, ob die Bewegung auch die ländliche Räume erfassen wird. Es gibt mehrere Beispiele von Aktionen in kleineren Städten wie Fayetteville in North Carolina, wo das Markthaus in Brand gesetzt wurde, in dem früher Sklavenversteigerungen stattfanden. Städte werden in Brand gesetzt, weil die Bewohner wissen, was für lebensfeindliche Räume Städte sind. Es ist schwer zu sagen, wie die konterrevolutionären Kräfte den Städten Herr werden wollen. Ausgangsperren, die wegen der Pandemie eigentlich Standard waren, konnte die Polizei bisher nicht durchsetzen. Auf der anderen Seite hat die Polizei in Minneapolis schon angekündigt, dass sie die Contact-Tracing-Technologien (die in der Quarantäne eingesetzt wurden) dazu benutzen werden, Protestierende zu überwachen und zu verfolgen und wir sehen zweifellos einer beispiellosen Repressionswelle entgegen.
Gibt es für euch irgendeine Inspiration aus anderen politischen Bewegungen? Hongkong, die Gelbwesten oder andere? Zirkulieren und verbreiten sich Erzählungen und Erfahrungen?
Der Aufstand in Hongkong scheint einen wirklichen Einfluss auf den Aufstand hier zu haben, aber genauso die allgemeine Erfahrung der globalen Unruhen der letzten Jahre. Leute haben Tipps wie man Tränengas ausschaltet nach dem Vorbild von Hongkong in Umlauf gebracht und adaptieren die „sei Wasser“-Strategie um Polizeikesseln oder Festsetzungen an einem Ort zu vermeiden, Laser werden benutzt um die Polizei zu blenden und Helikopter zum Rückzug zu zwingen.
Die Twin Cities haben ebenfalls schon in der Vergangenheit kleinere Aufstände gegen Polizeimorde erlebt. In 2015 im nördlichen Minneapolis und 2016 in Saint Paul. Taktiken die in diesen Momenten entdeckt wurden – am bekanntesten ist vielleicht das 2015 erzwungene Festsetzen der Polizei in deren eigenem Revier – gehören nun zum gesunden Menschenverstand. Zusammen mit der 2019 in den weltweiten Unruhen entstandenen allgemeinen taktischen Intelligenz hilft er dem strategischen Verstand des Aufstands Form zu geben.
Ich würde sogar sagen, dass auf einer taktischen Ebene, die Intelligenz, die gerade aufgebaut wird, eine Synthese von dem kantonesischen „sei Wasser“ mit sehr vielen Autos, amerikanischen Waffen und Brandstiftungen ist. Das weitverbreitete und dezentrale Plündern in ganz Minneapolis und Saint Paul, das von Gruppen in Autos realisiert wird, zwang die Polizei ihre Kräfte in jede Richtung zu zerstreuen. So plünderten und zerstörten Leute Discounter wie „Target“ oder Apotheken wie „Walgreens“, um anschießend zu anderen Orten zu fahren und dort weiterzumachen. Als Antwort würde dann die Polizei Einheiten vor den geplünderten Geschäften von „Taco Bell“ und „Target“ stationieren, um sie vor Brandstiftung zu schützen, und das hieß wiederum, dass nicht genug Polizisten beim dritten Revier waren, welches dann tatsächlich auch angezündet wurde. Die Taktiken sind recht simpel: plündere jeden Laden und brenn sie anschließend nieder. Die Cops verbrachten einen Großteil ihrer Zeit damit Feuern hinterher zu rennen und wurden von den Protestierenden ausgestochen. So stand die Polizei letztlich auf dem Dach ihres Reviers und konnte sich nur mit Tränengas verteidigen. Als sie kein Tränengas mehr hatte, wurden die Polizisten unter der Drohung eines unmittelbaren Angriffs zur Flucht gezwungen. Protestierende haben dann das Gebäude geplündert und angezündet.
Die Protestierenden in Minneapolis setzten sich bisher hauptsächlich aus jungen Leuten zusammen, obwohl es auch viel Unterstützung von älteren Leuten gab. Tatsächlich ist es interessant zu sehen, wie die Riots ohne eine strikte Einheit funktioniert haben, wie viele Leute zusammenhielten, obwohl sie nicht in allem übereinstimmen.
Wer organisiert eigentlich die Demonstrationen, die sich in den wichtigsten amerikanischen Städten entfalten? Wie entstehen sie? Durch bereits bestehende militante Strukturen oder eher auf spontane Weise?
In Minneapolis gab es bisher kaum organisierte Proteste. Der allererste Tag war von einer Koalition von linken Gruppen organisiert, aber sie haben in keinster Weise irgendwas angeführt. Viele Leute in den Demonstrationen, die von Linken organisiert wurden, versuchten andere Menschen von jeglich subversiver Aktion abzuschrecken, somit denke ich, dass viele Leute sich in den „friedlichen Demonstrationen“ nicht sicher fühlten. Abgesehen von diesen kleinen Protestzügen, wussten die Leute einfach, dass sie jederzeit zum dritten Revier gehen und dort eine Menge Menschen finden würden. Es war vollkommen spontan und kein Protest, zu dem aufgerufen oder der organisiert wurde. Ich kann mir vorstellen, dass in vielen Städten Demonstrationen von linken Aktivistengruppen organisiert werden, aber die Unruhe lässt diese schnell hinter sich. Die Linke wird – wie immer – versuchen den Aufstand auszuschlachten und ihn in eine neue Kampagne für Reformen umzuwandeln, aber es scheint bis jetzt klar zu sein, dass dies nicht wirklich gut funktionieren wird.
Könnt ihr uns was über die Stimmung auf den Demos und den Riots erzählen, sowohl was die Zusammensetzung als auch was die Emotionen angeht? Hier in Deutschland kommt an, dass die Aufständischen ziemlich verschiedene Hintergründe haben, was es der Polizei und vielen Politiker*innen möglich macht, weiße „Provokateure“ für alles verantwortlich zu machen. Man hört, was die Menschen antreibe seien Trauer und Wut – sind das die einzigen bzw. die bestimmenden Emotionen, die die Menschen dazu gebracht haben auf die Straße zu gehen?
Der Aufstand hat einen sehr vielfältigen Charakter, und das spiegelt die Diversität der Menschen in der Gegend im südlichen Minneapolis wieder, wo das Ganze angefangen hat. Die Idee, dass weiße Provokateure die Demos infiltriert hätten und verantwortlich für die Gewalt seien ist ein alter Trick, ein rassistischer Trick, und hat nicht wirklich funktioniert. Erst nach vier Tagen fing die Regierung an weiße, rassistische Provokateure für die Gewalt verantwortlich zu machen, und erst daraufhin machte sich in den Mengen die Paranoia breit.
Was die Emotionen angeht, ja, eine beispiellose Trauer und Wut sind sicher wichtige Motivationen des Aufstands. Aber wenn die Polizei zurückgedrängt wird und Menschen ungehindert plündern und Barrikaden bauen können, dann ist die Stimmung auch sehr freudig und festlich. Ich glaube nicht, dass das ein Widerspruch ist; die Menschen sind wütend auf die, die sie unterdrücken, aber sie fühlen vielleicht zum ersten Mal auch die Stärke des gemeinsamen Handelns mit tausenden anderen.
Ich werde niemals die Menschen vergessen, die ich am Donnerstagabend an dem großen Lagerfeuer, das das 3. Kommissariat in Minneapolis war, getroffen habe. Alle hatten ein Grinsen auf dem Gesicht, teilten die erbeuteten Güter untereinander auf, tanzten und relaxten, da die Cops nirgendwo zu sehen waren. Falls du jemals den Roman „Dhalgren“ von Samuel Delany gelesen hast, kannst du dir ungefähr vorstellen, wie es war. Ganze Häuserblocks standen in Flammen, während Menschen die Überreste geplünderter Gebäude durchforsteten, mit Waffen und Lasern in den Himmel schossen, neue Menschen kennenlernten, tanzten – das ist eine besondere amerikanische Art der Liebe.
Auch wenn es schwierig ist zu verallgemeinern: Was sind, jenseits des unmittelbaren Zusammenhangs, die Angriffsziele der Bewegung? Rassismus? Polizeigewalt? Trumpismus?
Das ist die Nat Turner-Sklavenrevolte von heute. In den USA wird die Revolution niemals im Kampf gegen Austerität, für kostenlose Krankenversicherung oder für den „Kommunismus“ ihren Ausgang nehmen. Was wir in den Straßen von Minneapolis und überall im Land sehen ist ein bewaffneter Aufstand gegen die sklavenhaltende und besitzende Klasse. Wenn du durch die Straßen zwischen den brennenden Häuserblocks läufst, hörst du Menschen Sachen sagen wie „500 Jahre, 500 Jahre“ (seit dem Beginn des atlantischen Sklavenhandels). Es ist ein Aufstand gegen die rassistischen Dispositive. Das heißt, der Horizont ist viel weiter als nur Reform und „Gerechtigkeit“ – und ich glaube es ist wirklich wichtig, das zu betonen, denn diese Tatsache scheint das, was gerade passiert, von der Black Lives Matter-Bewegung abzusetzen. Natürlich wollen viele Menschen, dass die Bullen des Mordes schuldig befunden werden, und das ist okay, weil es eine beinahe unmögliche Forderung ist. Aber auf der Straße wiederholen alle den selben Refrain: „Brennt alles nieder! Jagt alles in die Luft!“ Niemand erwartet irgendwas von den Regierungsinstitutionen. Wenn Menschen hier Widerstand leisten, dann erinnern sie sich an 500 Jahre Völkermord und Sklaverei, aber auch an 500 Jahre Widerstand.
Um was die Forderungen angeht noch etwas weiter zu gehen: macht es Sinn, über eine mögliche politische Antwort auf diese Ereignisse zu nachzudenken? Trotz sechs Jahren Black Lives Matter und zwei Obama-Amtszeiten hat sich die Situation kaum geändert. Und die anstehende Präsidentschaftswahl bietet offenkundig ebenfalls keine Hoffnung auf Veränderung. Was erhoffen sich die Protestierenden? Eröffnet die Bewegung neue Horizonte oder ist sie von Rachegelüsten getrieben?
Im Moment werden dir die Medien sagen, der Zyklus sei ein reiner Rachezug, und das stimmt auch sicher. Dennoch werden viele vielversprechende Beispiele positiver Horizonte gesetzt. Zuallererst einmal richten Menschen Selbsthilfezelte überall in den Straßen auf, in denen erbeutetes Wasser und Snacks verteilt werden, und es gab immer viel Milch, mit denen Menschen sich das Tränengas aus den Augen waschen konnten. Überall sind Sanitäter unterwegs und helfen verletzten Menschen. Das ist sehr verbreitet, aber die Medien zeigen es natürlich nicht.
Noch ein paar kurze Beispiele positiver Horizonte: gestern Abend wurden in Chicago Schulen für Menschen geöffnet, die in eine Bullenfalle geraten waren. In Minneapolis haben einige ein Hotel übernommen, in dem jetzt 150 Obdachlose wohnen.
Es ist auch das erste mal in der neueren US-amerikanischen Geschichte, dass ein Kommissariat eingenommen, geplündert, zerstört und niedergebrannt wurde. Jetzt haben wir die reale und konkrete Möglichkeit, die Polizei zum Aufgeben zu zwingen, und das ist etwas wirklich neues. Der Zaun vor dem Weißen Haus wurde am selben Abend niedergerissen, auch das ist wahrscheinlich beispiellos. Wir wissen nicht, wie es weitergehen wird – das ist wirklich schwer zu sagen.
Die Revolutionen des zwanzigsten Jahrhunderts stellten sich – nach dem Muster der Russischen Revolution – den Ablauf immer so vor, dass zuerst ein Regierungssitz besetzt und dann eine neue Gesellschaft ausgerufen wird. Ich muss sagen, dass wir einfach kein Bild davon haben, was für eine Art „Gesellschaft“ die jetzige ersetzen wird, wenn denn überhaupt eine! So funktioniert Macht heute einfach nicht. Wie unsere französischen Cousins nach der Wahl Trumps schrieben: „Vielleicht ist das, was gerade passiert, eine allmähliche aber unendliche Fragmentierung des nationalen Territoriums – das Ende der Vereinigten Staaten von Amerika – in der die Vervielfachung der Milizen die Vervielfachung der Kommunen notwendig macht.“ Wer weiß, vielleicht sind wir die neuen Amerikaner. Wir könnten alles niederbrennen und dort neu anfangen, wo andere den Kampf gegen koloniale Invasion und Sklaverei aufgegeben haben.
Welche Rolle hat Black Lives Matter seit seiner Gründung gespielt, und welche Bedeutung hat es in der Bewegung? Von hier aus gesehen ist es schwer zu beurteilen, ob es sich um einen Slogan, ein Netzwerk oder eine vollentwickelte politische Organisation handelt. Müssen wir uns die Bewegung und ihre Innovationen (bis hierher größtenteils in der Kunst der Zerstörung) als eine Kritik der Fehler von BLM vorstellen, oder eher als eine Fortsetzung von BLM?
Black Lives Matter ist im Grunde alle diese drei Sachen, und die letztere (die Organisation) profitiert von ihrer Verwechslung mit der ersteren (dem Slogan). Denn die Organisation spricht für sich, aber jeder denkt, als spräche sie für eine ganze Bewegung. In den Twin Cities Minneapolis-Saint Paul gibt es kein BLM-Chapter mehr, was die ganze Sache einfacher macht.
Wie ich eben schon erwähnt habe scheint es so, dass die Menschen im Großen und Ganzen die Forderung nach Gerechtigkeit vom Staat aufgegeben haben und es stattdessen vorziehen, die Polizei direkt zu konfrontieren. Black Lives Matter, als Organisation, hat von Anfang an versucht, diese Wut und Entschlossenheit in Rufe nach Reform und Gerechtigkeit zu kanalisieren – wie z.B. den nach der Strafverfolgung des Polizisten. Nur eine Minderheit fordert solche Dinge im Moment, was als eine Antwort auf das Scheitern der formalen BLM verstanden werden kann. Aber es ist gerade dieses Scheitern, dass den Slogan „black lives matter“ mit seiner ganzen Stärke in Kontakt bringen könnte.
Wie angedeutet ist die Bewegung sehr vielfältig, von jungen Menschen, die respektabel genug sind, um als TV- oder Sportstars durchzugehen, bis zur plündernden Jugend. Gibt es Dissens zwischen diesen Gruppen? Wenn ja, betrifft das die Vorgehensweisen? Gibt es schon Führungsfiguren und Organisationen, die versuchen, die kollektive Wut zu kanalisieren?
Natürlich gibt es Uneinigkeit, aber darin liegt auch die Stärke der Bewegung. Die Hongkonger haben dieses Motto „Jeder auf seine Weise erklimmen wir gemeinsam den Berg“, der hervorhebt, dass Menschen uneins sein und dennoch eine kohärente Kraft entfalten können. Ich denke, das ist der Reflex, der in der Bewegung noch entwickelt werden muss: das Gespür dafür, dass wir nicht immer einer Meinung sein oder einen Konsens haben müssen, um eine revolutionäre Bewegung zu formen. Ich denke die Menschen werden lernen, auch wenn das nicht immer schön sein wird. Viel Vertrauen muss erst noch aufgebaut werden. Dieses Land ist auf antiblackness aufgebaut, und ist schon lange fällig, dass weiße Menschen ernsthafte Risiken auf sich nehmen, um unsere braunen und schwarzen Brüder und Schwestern zu schützen. Das bedeutet viel mehr tun als nur protestieren. Wir müssen eine echte Infrastruktur schaffen, um Menschen eine Möglichkeit zu geben, das Ende dieser Welt zu überstehen; denn was wir auf den Straßen von Minneapolis sehen ist eindeutig der Beginn einer neuen Welt.
Spielt hier ein gewisser Nihilismus eine Rolle oder eher nicht? Menschen fühlten sich verlassen, allein; angesichts der viel höheren Coronavirus-Sterblichkeitsrate unter Nicht-Weißen (wie immer), steht hinter den Zerstörungen eine Art Nihilismus? Insbesondere bei der jüngeren Generation?
„Nihilismus“ ist ein komplizierter Begriff. Vielleicht ist Nihilismus ihre Methode, aber jeder, der diese Menschen gesehen hat, weiß, dass sie Freiheit in ihren Herzen tragen. Ich würde es also eher „Hoffnungslosigkeit“ nennen oder sagen, dass sie Teil der „no future“-Generation sind. Klar, es scheint so gut wie unmöglich, sich eine Revolution in den USA vorzustellen, aber trotzdem würde ich die Menschen, die alles niederbrennen, nicht Nihilisten nennen. Sie sind unsere einzige Hoffnung auf ein Weiterkommen; ohne die jungen Frauen und Männer, die gegen die Bullen zurückschießen, würde niemand von uns sehen, was alles möglich ist. Ohne die Brandstifter und Plünderer wären wir verloren. Wir müssen sicherstellen, dass die Bewegung nicht in einen symmetrischen bewaffneten Konflikt mit dem Staat gerät, aber ich denke, das wissen die meisten. Die Menschen bekämpfen diese faschistischen Bullenschweine seit 500 Jahren, es gibt ein sehr tiefsitzendes Wissen um Widerstand in den USA, und ich denke, dass wir in Momenten wie diesem sehen, wie klug und einfallsreich die Amerikaner wirklich sind.
Niemand hat daran geglaubt, dass wir dieser Scheiße ein Ende setzen können, aber wir sind zu viele und die Polizei kann uns nicht stoppen. Trump kann uns nicht stoppen, die Linke kann uns nicht stoppen. Der ganze Schmerz, die Trauma und die Trauer sind da draußen. Wir haben dieses Land in die Knie gezwungen. Die Aussicht auf eine Revolution ist da, das Weiße Haus könnte brennen. Das ist nur der Anfang.
Die Proteste im Iran scheinen niedergeschlagen. Wieder einmal hat der Sicherheitsapparat der hochgerüsteten Islamischen Republik Iran (IRI) die militärische Oberhand gewonnen. Aber der Konflikt ist nicht wirklich beendet, geschweige denn gelöst, sondern nur aufgeschoben. Denn der Bruch mit dem System ist irreparabel. Und die nächste Aufstandswelle wird kommen.
Ein Plädoyer für alle mit den Protesten Solidarischen, die Hoffnung nicht aufzugeben.
Der Iran ist ein seit Jahrzehnten brodelndes Fass. Ein dichtes und miteinander verwobenes Netzwerk an Krisen rund um unterschiedlichste Themen – Ökonomie, Klima, Sexualität, Repression, Arbeit, Identität – lässt immer mehr der 80 Millionen Einwohner*innen in Elend und große existenzielle Ungewissheit über die Zukunft verfallen. Die Iran, so gerne ihn Kommentator*innen oder Interessierte als mysteriösen „Gottesstaat“ exotisieren, ist damit kein Einzelfall. Ganz im Gegenteil reiht er sich ein in die zunehmende, globale und immer offensichtlichere Krisenhaftigkeit des neoliberalen Kapitalismus im 21. Jahrhundert und seiner Unmöglichkeit, zukunftsfähige Modelle anzubieten.
Dieses brodelnde Fass ist vor zwei Wochen erneut übergelaufen. Die Ankündigung in der Nacht des 16. November, den Benzinpreis zu verdoppeln bzw. zu verdreifachen, löste die heftigsten Unruhen seit knapp zwei Jahren aus: vermutlich über 300 Tote, Tausende verletzte und rund 10.000 Festnahmen. Der Staat schmeißt seine ideologische und repressive Mobilisierungsmaschine an und verfolgt im Umgang mit den Protestierenden – mal wieder – eine einfache Linie: Keinen Millimeter entgegenkommen. Mehr noch werden erstmals seit Jahren bereits jetzt Todesstrafen für “Anführer des von außen orchestrierten Aufstandes” gefordert und vermutlich umgesetzt. Um der eigenen Verschwörungserzählung des Unruhestifters von außen Glaubwürdigkeit zu attestieren, werden Festgenommene und weiß Gott wie lange Gefolterte vor die Kamera geschleift, um ein dementsprechendes “Geständnis” abzulegen. Denn für den iranischen Staat ist klar: nach uns die Sintflut.
Mittelfinger für die harte Hand Gottes
Das ist die eine Seite der Medaille: der schier unbesiegbare, klerikal-autoritäre, hochgerüstete Sicherheitsstaat der IRI schlägt immer und wieder jeglichen Protest nieder. Diese Seite der Medaille versetzt alle, die diesem Protest Erfolg wünschen, in Frust, Defätismus, Wut und Ohnmacht zugleich. Und sie lässt einen tatsächlich die Frage stellen: Wie soll sich in diesem Land jemals etwas zum Guten verändern?
Jeder Mensch mit Verstand sollte anhand Beispiele der jüngsten Geschichte im nahen und mittleren Osten begriffen haben, dass Demokratie und Freiheit nicht von außen herbeigebombt werden können. Und all jene, die glauben, Wirtschaftssanktionen und Drohgebärden über Twitter zwingen tatsächlich die Mullahs zum Einlenken und zur Änderung ihrer Herrschaftsweise, leben in einer Märchenwelt: die Mullahs beweisen seit Jahren, dass sie in 100 Fällen 100 mal das eigene Volk verhungern und verelenden lassen, als nur einen Bruchteil ihrer eigenen Privilegien einzubüßen.
Gepriesen wird angesichts der Feinde von außen die nationale Einheit und die Notwendigkeit, den Gürtel enger schnallen zu müssen, wie zu Zeiten des Ersten Golfkrieges oder jetzt in Bezug auf die Sanktionen. Ein einfacher wie erfolgreicher Bauerntrick, um von Korruption, wachsender Schere zwischen Arm und Reich und staatlichem Zugriff ins Alltagsleben der Bürger*innen abzulenken: Verantwortlich für das Elend im Land sind immer die Anderen.
Doch dieses Ticket zieht nicht mehr. Wir werden derzeit Zeuge, wie sich in den letzten zwei, vielleicht drei Jahren eine revolutionäre, intersektionale Bewegung bildet, verstetigt und wo sie kann rebelliert. Ihr gehören jene an, die 2009 – als angesichts der Wahlen die Hoffnungen ein letztes Mal innerhalb des Systems gelegt wurden – nicht Teil der „grünen Bewegung“ waren und sogar von ihr als „Lumpenproletariat“ diffamiert wurden: Ausgestoßene, Überflüssiggemachte, Prekarisierte, religiöse und ethnische Minderheiten in Provinzen, aber zunehmend auch die abschmelzende und perspektivlose Mittelschicht im Verbund mit Studierenden und fortschrittlichen Frauen.
Kein Zurück mehr
Das, was in einem immer engeren Zyklus auflodert – Blockaden, Demonstrationen, ziviler Ungehorsam, Straßenschlachten, militante Aktionen – sind die spektakulären Highlights, die alle Beobachter_innen mit Herz und Verstand aufhorchen und hoffen lassen. Doch längst hat sich dieser Unmut zu einer alltäglichen Praxis verstetigt, die mal mehr und
mal weniger subtil einen endgültigen Riss mit der herrschenden mächtigen Klasse und ihrer autoritären, neoliberalen Politik im Namen Allahs manifestiert. Dieser Riss vertieft sich mit jeder Explosion wie der letzten weiter, und mit dem nächsten Aufstand, der sicherlich kommt, noch weiter. Diese Bewegung ist revolutionär, denn sie findet erst Frieden, wenn die Islamische Republik in dieser Form nicht mehr besteht. Das kann man an mindestens drei Punkten festmachen, die aus der Bewegung selbst sprechen.
Erstens geht es längst geht es nicht mehr um die einzelnen Lager der IRI, die ein politisch-differenziertes Spektrum eines autoritären Regimes simulieren. Das verdeutlichten bereits Anfang 2018 gerufene und nun wiederholte, teilweise radikal zugespitzte Parolen wie “Konservative und Reformisten – das Spiel ist vorbei” oder eindeutige, mit der Todesstrafe versehenen Ausrufe wie “Wir wollen keine Islamische Republik” oder “Nieder mit Khamenei [oberster Revolutionsführer und damit höchste Autorität in der IRI]” .
Zweitens sprechen die Ziele der Aktionen und die Aktionsformen eine eindeutige Sprache: mehrere hundert Banken wurden abgefackelt. Alleine in Teheran waren 300 Banken nicht nutzbar, in ca. 15 weiteren Städten gab es zwischenzeitlich keine intakte Filiale. Ähnlich verhält es sich mit Polizeistationen und klerikalen Autoritätssymbolen wie Konterfei der Revolutionsführer, aber auch anderen Gebäuden wie großen Supermarktketten. Was von Regierungsseite als wahllose Zerstörungswut und Vandalismus disqualifiziert wird, lässt schnell eine rote Linie und einen gemeinsamen Feind erkennen: sowohl die meisten Bankfilialen, wie auch die betroffenen Supermarktketten sind im Besitz der iranischen Revolutionsgarden, der wirtschaftlich-politisch-militärischer Machtblock der IRI. Diese Ziele haben, ebenso wie die selten so radikalen Parolen, einen klaren Adressaten: das System als solches, und nicht einzelnen Vertreter*innen. Dass die Iraner*innen das perfide Spiel, in der die Mullah-Diktatur sich einen demokratischen Charakter a la “Vollzieher des Volkswillen” geben, durchschaut haben und es beenden wollen, zeigen drittens auch die Hintergründe und das politische Kalkül der Machthabenden in Bezug auf die Benzinpreiserhöhung, das völlig nach hinten losgegangen ist: Die Regierung Rohani hat diese Maßnahme damit begründet, dass sie aufgrund der Folgen der Sanktionen nun umverteilen und u.a. in Sozialleistungen investieren müssen. Das alte Muster: Die Aufhebung der Subventionen für Benzin wurden so verargumentiert, dass sie aufgrund von Faktoren von außen unumgänglich sind (Sanktionen), sie aber woanders in staatlicher Unterstützung reinvestiert und damit den kleinen Leuten zugute kommen sollten. Die Regierung inszenierte sich – wie so viele Regierungen in der IRI – in der Kürzungspolitik selbst als volksnah und besorgt um die Bedürfnisse der kleinen Leute. Welch eine Frechheit und welch ein Eigentor! Denn genau diese Leute waren es, die sofort und in einer seit der Revolution 1979 nicht dagewesenen Radikalität deutlich machten, dass diese “Umverteilung” nichts als ein unverschämter Taschenspielertrick ist, denn: Wie kann es sein, dass das Land mit den viertgrößten Öl-Reserven der Welt seine Bevölkerung verhungern lässt und währenddessen Mullahs und Revolutionsgarden ein Leben in Saus und Braus – ironischerweise ausgerechnet an westlichen Elite-Unis im “Herzen des Teufels” – leben? Wie kann es sein, dass dieses Land Zig Milliarden Dollar in diverse geopolitische Konflikte und den Stellvertreterkrieg mit Saudi-Arabien um die regionale Hegemonie pumpt, aber Arbeiter*innen über Monate und Jahre ihren Lohn “wegen der Sanktionen” nicht erhalten? Die Menschen im Iran fragen daher auf der Straße völlig zurecht “Gaza, Libanon, Jemen – was ist mit uns?” und schlussfolgern „Islamische Repbulik, es ist vorbei“.
Der Aufstand, der kommt
„Sie können viele Schlachten gewinnen, aber den Krieg verlieren sie“. Dieser Satz eines unbekannten Demonstranten, getätigt in einem der letzten Videos vor dem Internet-Shutdown, in schlechter Auflösung, mit zittriger Hand gefilmt, in einer unbekannten, Stadt, mit einer brennenden Bank im Hintergrund, ist in sich genommen einer der präziseste Ausdrücke für die Situation im Iran. Denn Menschen wie er, wie sie zu Hunderttausenden auf der Straße waren und damit ihr Leben riskiert haben, haben nichts mehr zu verlieren.
Und genau davor fürchtet sich die IRI. Denn sie weiß, was das bedeuten kann. Schließlich ist dieser Staat selber aus einer Massenrevolution gegen den Schah (und einer anschließenden blutigen Konterrevolution der Islamisten) geboren worden und weiß daher: am Ende entscheidet die Straße. Der Moment, als die Truppen des Schahs 1979 auf die Revolutionär*innen geschossen haben und diese danach trotzdem weitermarschiert sind, gilt als eine der zentralen Symbole für den Untergang des Monarchen. Die Parallelen sind auffällig, doch dieser Moment ist noch nicht erreicht. Die hohen Todeszahlen und regelrechten Hinrichtungen durch staatliche Schergen auf der Straße werden allerdings als Anzeichen von Nervosität eines Sicherheitsapparates gedeutet, der sich eigentlich auf Festnehmen und Foltern spezialisiert hat und nun panikartig den Würgegriff erhöht – verzweifelt, um in Kontrolle zu bleiben. Die IRI spielt ein einfaches Spiel: Do or die. Wenn sie – in welcher Weise auch immer – ihre Koffer packen müssen, können sie nirgends hin. Denn überall wo sie in der Region offen oder unter der Hand operieren (Syrien, Libanon, Irak, Jemen, Gaza etc.) herrscht Instabilität, Krieg und/oder aber ebenfalls aufstrebende Aufstandsbewegungen, die die alte Ordnung zum Teufel jagen möchten und daher sicherlich Ayatollahs im Exil nicht mit offenen Armen empfangen: das Ende November durch Demonstrant*innen niedergebrannte iranische Konsulat in Bagdad hat dies eindrucksvoll bewiesen. So schließt ein ranghoher Ayatollah in Bezug auf die eigene Protestbewegung fast schon folgerichtig: Wenn wir gehen, verlassen wir verbrannte Erde.
Was bedeutet dies wiederum für die Aufstandsbewegung? Im Kern genau das, was sie schon seit Jahren selbst vermittelt: Zwischen ihnen und dem Regime wird kein Frieden mehr gemacht. Gewiss, der Staat ist hochgerüstet und ideologisch – noch – gefestigt. Das verhindert eine weitergehende Organisierung zu einer sozialen Bewegung im klassischen Sinne, mit Forderungen, einem Manifest, Führungspersonal usw. Ist das ein Manko? 2009 fand genau das statt: das reformistische Lager um Mir Hossein Mousavi lancierte rund um die Präsidentschaftswahl eine solche auf Teheran fokussierte Bewegung – und wurde niedergeschlagen, indem ihr Führer eingesperrt und nach und nach die militärische Oberhand über die Schauplätze des Protests – urbane Städte im Kernland – gewonnen wurde. Dies ist hier nicht möglich: die Bewegung hat keinen Führer, kommuniziert über soziale Medien und Messengerprogrammen, sie ist sehr dezentral und explizit nicht aufs Zentrum der Macht fokussiert, sondern auf Außengebiete und Hochburgen von Minderheiten, und reguliert sich selbst. Gewiss, jeder niedergeschlagene Aufstand kostet Menschenleben, Folter, Gefängnisstrafen, Traumatisierungen und Flucht. Gleichzeitig vergrößert er jedoch den Hass gegen die gesamte Ordnung noch mehr.
Diese Aufstandsbewegung verhält sich wie die mythologische Figur der vielköpfigen Hydra. Schlägt man ihr einen Kopf ab, wachsen an derselben Stelle zwei nach. Und das Tempo wächst; vor einiger Zeit sagten die Iraner*innen noch stolz, dass sie alle 30 Jahre eine Revolution oder zumindest eine große politisch-soziale Bewegung lostreten. Vor kurzem korrigierte man den Abstand solcher Bewegungen auf 10 Jahre – nun erschüttern alle zwei Jahre gesellschaftliche Erdbeben das Land. Fragt sich nur noch, wie lange die Mullahs den Herrschaftsanspruch für sich behalten können.
Es brennt in Südamerika. Während in Brasilien und Bolivien buchstäblich der Regenwald in Flammen steht, gibt es in Argentinien über Wochen anhaltende Proteste gegen die neoliberalen Reformen des konservativen Präsidenten Macri. In Perú löst der Präsident den Kongress auf und in Ecuador muss die Regierung aus der Hauptstadt fliehen, nachdem es zu massiven Protesten und einem Generalstreik kommt.
Ursprünglich veröffentlicht von The Hydra World.Bericht und Fotos von Paul Frei.
In diesem Chaos präsentiert sich Chile als ein ruhiges und stabiles Land, weshalb der rechte Präsident und Milliardär Sebastian Piñera, Anfang Oktober noch davon schwärmt: Chile sei “eine Oase inmitten des unruhigen Lateinamerikas”. Keine zwei Wochen später ist diese Fiktion geplatzt. Piñera spricht nun von “einem Krieg gegen einen mächtigen Feind”.
Seit dem 19. Oktober ist in Chile ein landesweiter Aufstand im Gange. Die Bilanz nach etwas mehr einer Woche: 20 Tote, tausende Verletze, davon fast 500 durch Schusswunden, 6000 Festnahmen, 18 Anzeigen gegen die Polizei wegen Vergewaltigung, weiterhin 20 Vermisste.
Doch was ist geschehen, dass die Situation dermaßen eskaliert ist? Ich mache mich auf den Weg nach Santiago de Chile, um mir ein Bild von der Situation vor Ort zu machen.
Ein Tropfen der das Fass zum Überlaufen gebracht hat
“Chile sei ein schlafender Riese”, meint der Fahrer des Taxi auf den Weg zu meiner Unterkunft im Barrio Brasil, einige Blocks vom Palacio de la Moneda, dem Sitz der Regierung, entfernt.
“Die Erhöhung der Fahrpreise haben das Fass zum überlaufen gebracht” so sagt er. Schüler*innen und Studierende riefen nach der sukzessiven Erhöhung der Fahrpreise zum kollektiven Schwarzfahren auf. Sie selbst sind von der Fahrpreiserhöhung nicht betroffen, zeigten sich aber solidarisch.
Als die Cops daraufhin mit härte reagieren kommt es zu Angriffen auf die Metro, ganze U-Bahnen stehen in Flammen, Supermärkte werden geplündert und angezündet. In der Hafenstadt Valparaiso muss der Kongress evakuiert werden nachdem Demonstrant*innen die Absperrung überrennen. Im ganzen Land hat die Polizei die Kontrolle verloren woraufhin der Präsident den Ausnahmezustand verhängt und das Militär in die Straßen schickt.
Seit der neoliberalen Umstrukturierung des Landes durch den Diktator Augusto Pinochet (1973-1990) wurde das Staatsvermögen privatisiert und die staatlichen Leistungen massiv reduziert. Bis Heute sind Strom, Wasser, das Gesundheits-, Bildungs- und Rentensystem privatisiert. Der Protest entwickelte sich schnell zu einem Aufstand, der die alltäglichen und systematischen Zumutungen des Kapitalismus anklagt.
Chile despertó
Einen Tag nach der riesigen Demonstration vergangenen Freitag sind die Straßen in der Innenstadt von Santiago gespenstisch leer. Das Gebiet rund um den Palacio de la Moneda, ist weiträumig abgesperrt. Carabinieros in grüner Vollmontur stehen an jeder Straßenecke, die Geschäfte haben ihre Fenstern und Eingänge verbarrikadiert.
Die Demonstration war mit über 1,2 Millionen Beteiligten in der Hauptstadt die Größte seit dem Ende der Militärdiktatur vor knapp 30 Jahren. Die Demonstration, wie auch die Demonstrationen zuvor konzentrieren sich auf den Plaza Baquedano. Der Platz fungiert als Kreisverkehr, von dem auch die 8-spurige Hauptstraße Avenida Libertador Bernardo O’ Higgings abgeht und zum Regierungssitz führt. Entlang der Straße und in den Seitenstraßen sind unzählige Graffitis und Tags gegen die Regierung zu sehen.
In den Bereich konzentrierten sich im den letzten Tagen die Kämpfe mit den Cops, so schildert mir ein Demonstrant die Situation. “Chile despertó” sagte er. Chile ist aufgewacht. Der Slogan ist immer wieder auf den Demonstration zu hören und Transparenten zu lesen.
Auf den etwa zwei Kilometern zwischen dem Palacio de la Moneda und dem Plaza Baquedano befinden sich drei Metrostationen, die allesamt verwüstet und immer noch gesperrt sind. Fünf Gebäude, die sich auf der Strecke befinden sind ausgebrannt und die restlichen, meist öffentlichen Gebäude oder Geschäfte entlang der Straße sind geschlossen und verbarrikadiert. Ein großes Graffiti ziert das Kulturzentrum Centre Gabriela Minsitral: “Es gibt keinen Dialog solange sich das Militär in den Straßen befindet” steht auf dem improvisiert Schutz aus Holz vor dem Gebäude. Die Bilder von Panzern auf den Straßen haben bei vielen Chilen*innen Assoziation mit der Militärdiktatur wecken lassen und den Hass auf den Staat befeuert.
Laut einer repräsentativen Umfrage des Instituts CADEM sind 78% der Bevölkerung gegen die Politik des rechten Präsidenten und seiner Koalition aus rechten bis faschistischen Parteien wie der Unabhängigen Demokratischen Union (UDI). Nach den massiven Protesten und der großen Demonstration entschuldigte sich Präsident Piñera und leitete eine Reihe von Reformen ein, um wieder zur Normalität zurück zu kehren, wie etwa die Reduzierung der Wochenarbeitszeit um 8 Stunden auf 40, die Erhöhung des Mindestlohns und der Rente um 20 %. Außerdem feuerte er sein komplettes Kabinett. Mit diesem Schritt versuchte er wieder Normalität einkehren zu lassen, denn Montag sollte eine Abgeordnete der UN kommen, um die Menschenrechtslage zu beobachten, was aber aus unbekannten Gründen verschoben wurde.
Pacos Culiaos – Asesinos
Die Normalität in Chile ist diesen Tagen aber der Aufstand. Während sich eine friedliche spontan Demo von rund 2000 Menschen auf den Weg zum Regierungssitz macht, brennen am Plaza Baquedano wieder Barrikaden und die Cops werden angegriffen.
Einen Tag nach der großen Demo haben sich erneut einige Tausend auf dem Platz versammelt um weiter zu protestieren. Zur Normalität will hier niemand zurückkehren. Auf einem der Schilder der Demonstrierenden steht “meine Größte Angst ist, dass alles so weitergeht, als wäre nichts geschehen”. Einige Meter daneben wird der Haupteingang der Metrostationen Baquedano mit Pflastersteinen und vereinzelten Molotowcocktails eingedeckt. Die Polizeieinheiten befinden sich hinter dem Tor, das den Eingang zur Metro versperrt und versuchen den Eingang zu halten. Neben dem Eingang klagt ein Graffiti die Cops an: “Hier wird gefoltert”.
Gegen die Cops und das Militär werden schwere Vorwürfe erhoben. Nicht nur, dass Cops und das Militär scharf auf die Demonstrant*innen schießen und dadurch mehrere hundert Menschen, zum Teil schwer verletzt haben. Bereits fünf Demonstrant*innen wurden nach offiziellen Angaben erschossen, überfahren oder tot geprügelt und mindestens zwanzig Menschen sind verschwunden.
Des Weiteren wurden laut dem Instituto Naciónal de Derecho Humanos (INDH – Nationales Institut für Menschenrechte) bereits 94 Anzeigen wegen Folter und 18 sexuelle Misshandlungen (darunter Vergewaltigungen) aufgenommen.
Zudem kursiert auf sozialen Medien der Autopsie Bericht von verbrannten Leichen, die in einem Supermarkt gefunden wurden. Laut dem Bericht sollen die Leichen Schusswunden in der Brust aufweisen, was einen Mord und eine Vertuschungsaktion der Polizei oder des Militärs nahelegt. Ob das stimmt, wird sich – wenn überhaupt – erst in den kommenden Wochen abschließend klären lassen.
Die meisten Demonstrant*innen aber auch Taxifahrer*innen, Journalist*innen oder Verkäufer*innen glauben zumindest, dass die Cops oder andere “Infiltradores” häufig hinter den Brandanschlägen auf bereits ausgeraubten Supermärkte stecken. Sogar ein Feuerwehrmann aus Santiago hält das für möglich. “Bei einem Brandanschlag muss die Versicherung den Schaden bezahlen. Und wieso sollte man einem bereits ausgeraubten Supermarkt ausrauben?” (Er selbst lehnt die Plünderung jedoch ab. Nicht weil es nicht gerecht sei, sondern weil es den öffentlichen Bild der Demonstrant*innen schadet.)
Auf dem Plaza Baquedano ist die Stimmung weiterhin unverändert. Auf dem Platz wird der Protest besungen, Straßenverkäufer verkaufen Getränke und Essen. Immer wieder kommt es zu Schüssen von Gummigeschossen und Tränengas, um die Angriffe auf die Station abzuwehren.
Nach einigen Stunden rücken weitere Polizeieinheiten an, um den Platz zu räumen. Als sie sich dem Platz von einer der Straßen nähern werden sie von einem Pflastersteinhagel und den Parolen “Pacos Culiaos” (Verfickte Bullen) und “Asesino, Asesino” (Mörder, Mörder) empfangen.
Egal ob mit Gasmaske vermummt und Zwille bewaffnet oder mit Smartphone in der Hand die Situation filmend. Alle wollen ihre Abneigung gegenüber den Cops kundtun. Seit der massiven Repression und der massiven Gewalt ist in der Bevölkerung die Abneigung gegenüber den Pacos enorm.
Auch ein Fahrer eines Stadtbusses, der zwei Parallelstraßen weiter seine Ausweichroute fährt, reicht ohne zu Zögern den Feuerlöscher durch das offene Fenster, als ihn zwei vermummte Demonstrant*innen danach fragen. Als es den Cops schließlich gelingt den Platz zu räumen verlagern sich die Kämpfe in die Seitenstraßen rund um den Platz. Die Straßenschlachten können nach etwa einer Stunde und kleineren Hin und Her schließlich komplett geräumt werden.
Die Situation in Valparaíso
Am nächsten Morgen sollte es für drei Tage nach Valparaiso gehen, um einen Eindruck der Situation abseits von der Hauptstadt zu bekommen.
Die Hafenstadt liegt 120 Kilometer westlich von Santiago und gilt als linke und alternative Stadt. Im Gegensatz zu Santiago ist die Stimmung in Valparaíso angespannter. Der Busbahnhof wird von Militärs mit Maschinengewehren bewacht, weitere Einheiten sind auf Abruf in der Innenstadt stationiert. Die Kriminalpolizei bewacht in schwerer Montur ihre Station und Militärhubschrauber kreisen über der Stadt. Ein Großteil der Bewohner*innen läuft mit einer Atemschutzmaske durch die verwinkelten Straßenzüge, der auf verschiedenen Hügeln gelegenen Stadt, denn der beißende Geruch von Tränengas liegt in der Luft.
Wie bereits in Santiago ist auch der Hafenstadt anzusehen, dass hier seit über einer Woche protestiert wird. Jede der vier Hauptstraßen im Innenstadtbereich ist samt Nebenstraßen auf einer Strecke von etwa drei Kilometern übersät mit Graffitis, Tags und zerstörten Geschäften. Im Innenstadtbereich dürfte es um die 20 abgebrannten Gebäude geben. Vorwiegend große Supermarktketten und Apotheken. Kleinere Geschäfte wurden von den Plünderung verschont aber haben ihre Rolltore trotzdem zusätzlich verbarrikadiert und bitten mit Zetteln darum ihre Läden nicht zu Plündern, da sie sonst vor dem Nichts stehen.
Wie in ganz Chile kommt es auch in Valparaíso den Vormittag zu Asambleas, Versammlungen der Nachbarschaft an den öffentlichen Plätzen, um über die Situation zu diskutieren und Forderungen an die Regierung zu stellen, die längst über soziale Reformen hinaus gehen: Der Rücktritt Piñeras wird gefordert und nichts weniger als eine neue Verfassung für das Land. Die aktuelle stammt aus der Militärdiktatur und ist durchsetzt von neoliberalen Gesetzen.
Auch wenn sich sehr wenige bis keine organisierten linken und kommunistischem Gruppen an den Demonstrationen öffentlich beteiligen, so ist der Klassenkampf auf den Plakaten, in den Forderungen und den Parolen omnipräsent. Auf dem Plaza Sotemayor, einem der großen Plätze in Valparaiso, hält eine junge Demonstrantin ein DIN A3 großes Pappeschild in die Luft.
Zwischen Fahnen und Luftballons ragt ihr Schild heraus. “Gibt es kein Brot für den Armen, gibt es keinen Frieden für den Reichen”.
Zur heutigen Demonstration haben unter anderem die Fans des lokalen Fußballvereins aufgerufen, die die Demonstrationsspitze anführen. Gefolgt vom mehreren Tausend Demonstrant*innen aller Altersklassen und einem Block aus etwa 100 Motorradfahr*innen samt ihren Motorrädern macht sich der Demonstrationszug auf den Weg Richtung Kongress. Unterwegs applaudieren Leute und es stoßen immer mehr Menschen mit Kochtöpfen und Deckeln dazu. “Cacerolzas” – eine in Südamerika weit verbreitete Protestform, bei der Menschen auf der Straße oder aus ihren Fenstern heraus auf Töpfe schlagen, um damit ihren Protest zu zeigen.
Von Trompeten und Trommeln begleitet singt die Demonstration das Bekannte Widerstandslied “El pueblo Unido jamás será venecido” (Das vereinte Volk wird niemals besiegt werden). Das Lied ist zu einer Art Hymne der Proteste avanciert.
Die Polizei hat ihrerseits einige Straßenzüge vor dem Nationalkongress, der seinen Sitz in Valparaíso hat, ihre Absperrungen angebracht. Im Vergleich zu Deutschland sind in Valparaíso wie auch in Santiago de Chile lächerlich wenig Cops im Einsatz. Den etwa 10.000 Demonstrant*innen in Valparaíso stehen maximal zwei Dutzend Carabinieros in Vollmontur, samt gepanzerten Fahrzeuge und einem Guanaco entgegen. Als Guanaco bezeichnen die Demonstrant*innen die Wasserwerfer, da sie wie das Tier auch am spucken sind.
Ungefähr 50 Meter vor den Absperrungen beginnen die Cops auf die Demonstrationsspitze mit Gaskartuschen zu feuern. Als Antwort auf das Reizgas kommt es zu einem massiven Steinhagel und vereinzelt fliegen Molotowcocktails. Die Stimmung auf der Demo ist wütend und kämpferisch. Molotowcocktails werden bejubelt und permanent geben die Trommeln und Trompeten den Rhythmus für die Parolen vor und die Menge feuert die vorderen Reihen an.
Während in der Hauptstraße die Riots fortlaufen, werden in den Seitenstraßen brennende Barrikaden errichtet, um den Cops den Zugang von der Seite zu verhindern. Der Bordstein wird aufgebrochen, Wurfmaterial gesammelt und an den Wänden Graffitis und Tags gegen die Cops und die Regierung angebracht.
Immer wieder kommt es zu Vorstößen der vorderen Reihen, um die Cops zu überrennen.
Jedoch können die Cops durch Gummigeschosse die Demonstrationsspitze zurückdrängen. Die Projektile mit denen geschossen wird, beinhalten ca. 20-25 etwa 0,8 cm große Kugeln aus Hartplastik. Laut Demosanitäter*innen sollen die Kugeln zudem einen Kern aus Metall haben. Bei dem Einsatz von Gummigeschossen kommt es immer wieder zu Verletzungen, in denen die Gummikugel die Haut durchdringen und stecken bleiben. Außerdem haben laut INDH bereits über 100 Menschen durch die Gummigeschosse ihr Augenlicht verloren.
Um den vorderen Reihen zu unterstützen fahren die Motorräder nach vorne. Von einem unheimlich Lärm begleitet rückt die ganze Demo weiter nach vorne und versucht die Cops zurück zu drängen. Denen gelingt es aber durch Gummigeschosse und unter massiven Einsatz von Tränengas, das weit in die Mitte des Demonstrationszuges geschossen wird, die Menge zu verteilen.
Für gewöhnlich sind Gaskartuschen dank einer, über Instagram verbreiteten Anleitung, schnell gelöscht oder fliegen zurück zu den Cops. Kommt es jedoch zu einem massiven Beschuss, sind die Kartuschen nicht schnell genug gelöscht und der starke Wind von der Küste verteilt das Tränengas.
Wenn es den Cops gelingt die Demo etwas zurück zu drängen rücken sie mit dem Wasserwerfer vor, um die Mitte der Straße frei zu machen, um anschließend mit dem Zorillo (Spanisch für Stinktier) einem gepanzerten Wagen durch die Straße zu rasen, der rechts und links Reizgas ausstößt und somit die Menge in die Seitenstraße fliehen lässt und die Demonstration auflöst.
Nach der Auflösung verlagern sich die Kämpfe mit der Polizei an verschieden Ecken der Innenstadt und es werden am den Kreuzungen rund um die Park brennende Barrikaden errichtet. Die Riots und das abschließende Katz und Maus Spiel zwischen Protestierenden und Cops zieht sich über Stunden. Teilweise von Mittag bis in die Nacht hinein.
Die brennenden Barrikaden können dadurch manchmal für Stunden gehalten werden. Autos werden von dem Protestierenden umgeleitet und es kommt vor, dass ein Auto anhält und über die Boxen Musik laufen lässt und die Menge dazu feiert. Am Rande der Barrikaden kommt es immer wieder zu Plünderungen von Geschäften wie zum Beispiel Apotheken.
Dabei werden vor allem in Chile teuere Artikel wie Toilettenpapier, Taschentücher oder Medikamente angeeignet und verteilt. Computer oder Kühlschränke werden als Barrikaden benutzt und angezündet, bis die Cops anrücken und auch die letzte Barrikade in der Innenstadt löschen.
Valparaíso Resiste
Am nächsten Morgen läuft der Alltag ganz normal weiter. Die Menschen scheinen an den Aufstand gewöhnt zu sein und treffen sich zu den Asambleas. Die Feuerwehr löscht die letzten Brände in der Apotheke, die gestern noch geplündert und über Nacht angezündet wurde.
Die Geschäfte, die offen sind können nur durch eine kleine Tür betreten werden.
Während die einen ihre Geschäfte mit Metallplatten zuschweißen, strömen nach und nach kleine Gruppen an Vermummte die Hügeln herunter und begeben sich auf den Weg zur Demonstration. An den Vermummten Demonstrant*innen scheint man dich mittlerweile gewöhnt zu haben. Es wird sich nicht daran gestört, wenn Demonstrant*innen mit Gasmaske und Zwille sich auf den Weg zur Demo machen. Vereinzelt wird Ihnen applaudiert.
“Wir haben Tollwut” erklärt mir eine Freundin, die ich in ihrem Laden besuche. Die ganze Woche tätowiert sie ausschließlich Anticops Tattoos. Die Öffnungszeiten sind nur bis mittags, damit sie und die Leute auf die Demo gehen. Die Geschehnisse der letzten Woche habe die Menschen derartig aufgebracht, dass sie tollwütig sind und nicht aufhören werden zu kämpfen, bis ihre Forderungen umgesetzt werden. Sie Klingt entschlossen aber auch erschöpft. 12 Tage Protest zerren an den Kräften. Währenddessen mach ich mich auf den Weg zur Demo mit einem ihrer Freunde. Er hat eine Wunde am Jochbein. Ein Gummigeschoss habe ihn getroffen. Deswegen aufzuhören kommt für ihn aber nicht in Frage.
Die Demo ist mehr ein Riot als eine Demo. Groß gelaufen wird nicht, es wird sich eher mit einigen Tausend vor der Polizeiabsperrung versammelt und die Cops angegriffen. Insgesamt ist die Demo kleiner als am Tag zuvor aber dafür offensiver und es fliegen regelmäßig Molotowcocktails auf die Cops. Unter anderem auf ein gepanzertes Auto, das gerade dabei war, die Menge zu verteilen. Als es jedoch von einem Cocktail Getroffen wurde, legt es den Rückwärtsgang ein. Begleitet vom Jubel und “el pueblo Unido jamás será vencido” Rufen.
Insgesamt sind die Riots besser vorbereitet. Holzplatten werden herausgerissen, um eine Schutzwand gegen die Gummigeschosse zu errichten. Außerdem wird die Kriminalpolizei auf Trapp gehalten, indem es immer wieder zu Angriffen auf deren Wache kommt. Die Angriffe sind nicht wirklich koordiniert. Viel mehr beteiligt sich jeder der gerade Bock hat. Ein Großteil der Demo ist Vermummt. Um sich vor dem Tränengas zu schützen? Die Polizei zu attackieren oder weil es mittlerweile zum Demo Style in Chile gehört? Man weiß es nicht.
Erst in den Abendstunden gelingt es den Cops durch den Einsatz von Motorradeinheiten die Massen zu verscheuchen. Etwa 10 Carabinieros fahren gezielt auf Menschenmenge zu, um diese zu vertreiben und anschließend die Barrikaden zu löschen.
Lediglich auf den Hügeln brennen die Barrikaden noch. Die Nachbarn der Straße haben sie errichtet und knapp 100 Personen bewachen das Viertel an verschiedenen Punkten. “Die Polizei beschützt uns nicht, wir müssen uns vor ihr beschützen, so begründet eine Anwohnerin die Barrikaden. Sie berichtet mir von Vermissten, Vergewaltigungen, Mord und Vertuschung der Regierung. Das INDH bestätigt die Ermittlungen hierzu. Im Internet kursieren zudem Videos wie die Cops in Häuser einbrechen und sogar Molotowcocktails auf Häuser schmeißen. Deshalb organisiert man sich im Viertel, den Cops wird nicht vertraut. Auch mir gegenüber ist man skeptisch und fragt lieber zwei Mal nach wer ich bin und wieso ich hier sei.
Die Nachbarschaftswachen sind mit den anderen Vierteln gut vernetzt und wissen, wann die Cops kommen. Als die Barrikaden in den anderen Straßen geräumt wurden ruft eine Person “Wir sind die letzten”. Es wird sich auf die Ankunft der Repressionstruppen vorbeireitet. Flaschen, Steine und Molotowcocktails stehen bereit, um sich zu verteidigen. Seit letzter Woche sind sie jede Nacht hier. Während der nächtlichen Ausgangssperre mussten sie allerdings fliehen, sobald das Militär angerückt ist. Heute Nacht kamen die Cops nicht. Genügend Zeit für die Sprüher ein paar Meter weiter unten Ihr Bild fertig zu malen. “Resiste” ziert die Fassade der Häuserwand. Der Besitzer sitzt ein paar Metern daneben.
Die Proteste gehen weiter
Zurück in Santiago. Für Dienstag wurde wieder größer mobilisiert. Mehrere Zehntausend Menschen haben sich erneut auf dem Plaza Baquedano versammelt. Dir Stimmung ist ausgelassen. Auf dem Platz werden die beiden Hauptforderungen auf Transpis präsentiert: Eine neue Verfassung und der Rücktritt Piñeras.
In verschieden Straßen kommt es zu stundenlangen Riots wie in Valparaiso. Jedoch ist die Masse der Protestierenden deutlich größer und besser organisiert, so dass die Polizeieinheiten am mehreren Fronten angegriffen werden können. Die Dächer der Bushaltestellen werden eingerissen, um sie als Schutzschilder in der ersten Reihe zu verwenden und die Wirkung der Gummigeschosse zu eliminieren. Über Stunden verlagern sich die Kämpfe um maximal 100 Meter nach vorne und hinten.
Die Zeit wird genutzt, um die frisch geputzte Metro Station wieder umzugestalten und einige Protestierende versuchen über 30 Minuten hinweg alles nützliche aus einer Baustelle mitzunehmen, um sie anschließend im Brand zu stecken.
Um sich einen Überblick über die Situation zu verschaffen kreist ein Polizeihubschrauber über dem Stadt und wird über dem Plaza Baquedano fast vom einem abgeschlossenen Feuerwerkskörper erwischt, was von den tausenden Protestierenden bejubelt wird.
Je später es wird, desto ernster werden allerdings die Cops. Sie setzen jetzt vermehrt den Wasserwerfer ein, um anschließend auf die verteilte Menge mit Gummigeschossen zu schießen.
Bei jedem Knall ducken sich die Demonstrierenden reflexartig, um nicht von den Gummigeschossen erwischt zu werden. Hinter den großen Palmen in der Mitte des Trennstreifen der Straße suchen ganze Schlangen von Menschen Deckung, um nicht von den Gummigeschossen erwischt zu werden oder die Cops mit Laserpointern zu blenden.
Gegen 22 Uhr, nach über sechs Stunden ununterbrochenen Riots, gelingt es den Cops mit dem Einsatz des Zorillo die Demonstration schließlich aufzulösen und den Platz zu räumen.
Zumindest für die Nacht.
Für die ganze Woche sind weitere Proteste und ein Generalstreik angekündigt. Außerdem haben feministische Gruppen für einen Marsch der Hexen an Halloween aufgerufen. Wenige Hundert Meter vom Plaza Baquedano entfernt kehren die überwiegend jungen Leute zurück in ihre Viertel. Singend ziehen sie an einem Haus vorbei das gerade noch gebrannt hat und kündigen in ihren Gesängen an:
“Ihr werdet schon sehen. Die Kugeln mit denen ihr auf uns schießt werden zurück fliegen!”
Das Murmeltier hebt wieder seine Pfote, doch es grüßt nicht, sondern warnt. Das Murmeltier, das sich schon vor der letzten großen Krise, gezeigt hat, heißt Claudio Borio. Borio hat den weltweit bedeutendsten Finanzbeobachterposten inne. Er ist Leiter der Wirtschafts- und Währungsabteilung der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich (BIZ). Die BIZ ist das Zentralorgan der Noten- bzw. Zentralbanken. Dort treffen sich die Zentralbanker zum Kungeln, dort werden die Devisenreserven der Zentralbanken verwaltet und dort werden übergreifende Analysen von hoher Qualität erstellt. In ihrem gerade erschienenen Quartalsbericht warnt Borio vor dem aktuellen Anstieg verbriefter (sekuritisierter) Kredite, die als Wertpapiere auf den Markt geworfen werden, um Kasse zu machen und das Risiko loszuwerden. Das sind also Schuldpapiere, die durch eine Verbriefungs- oder Sekuritisierungsindustrie gebündelt und tranchenweise in Wertpapiere verwandelt werden.1
Das Murmeltier hat schon einmal gewarnt, zusammen mit seinem inzwischen pensionierten Kollegen, dem ehemaligen Chef der BIZ, William White, im Jahre 2003. Gewarnt haben sie vor dem Überhitzen der Sekuritisierungsindustrie mit Milliarden verbriefter fragwürdiger bis fauler Schulden, damals vorwiegend aus dem Hypothekenbereich. Gewarnt hatte auch ihr brillanter Kollege Raghuram Rajan, der ehemalige Chefökonom des IWF.2Damals hießen diese Wertpapiere (besser „Unwertpapiere“) aus dem Hypotheken-, Automobil-, Konsumentenbereich etc. „Collateralized Debt Obligations“ (CDO), heute heißen sie zur Vermeidung unangenehmer Erinnerungen „Collateralized Loan Obligations“ (CLO): Damals waren sie der Grund des Crashs von 2008, als der Pegelstand der Schulden zu hoch anstieg.3
Niemand außerhalb der BIZ kennt das weltweite Ausmaß der CLOs, den aktuellen globalen Schuldenpegel also, und den Grad der Fragwürdigkeit ganz genau, und die BIZ sagt es nicht. Zwar schlüsselt sie detailliert das dramatische Anwachsen der CLOs im Bereich hochverschuldeter (auf 1,4 Billionen in den vergangenen Jahren) und damit ohnehin wenig kreditwürdiger Firmen seit Juni diesen Jahres auf und wir erfahren viel Wichtiges über verschiedene technische Sekuritisierungskategorien. Aber es fehlen Einzelheiten über die Techniken, mit denen der stystematische Leichtsinn der Banken und anderer Geldgeber, die ja ihre Risiken mit dem Verkauf der sekuritisierten Papiere schnell an das anlagewillige Publikum weitergeben können, operiert. Die Attraktivität für sie liegt in den hohen der Armutsbevölkerung abgepressten Kreditzinsen. Es sind wieder mit Phantasiebezeichnungen versehene Kredite ohne nennenswerte Absicherung und Nachweispflichten, wie damals schon. „Asset depletion loans“, „asset disspipation loans“ heißen sie, oder auch „non QM“ („nicht qualifizierte Darlehen). Eingesetzt werden sie vor allem im privaten „Familiensektor“ (Studium, Haus, Gesundheit). Dort summieren sich die Schulden inzwischen auf etwa vier Billionen (viertausend Milliarden) Dollar.4 Insgesamt nehmen die Stellungnahmen aus den verschiedenen Verschuldungssektoren an Dringlichkeit zu wie wir im Hydra Krisenticker berichtet haben.
Noch am 21.9.19 übermittelte die New York Times Warnungen, dass die Fähigkeit der Haushalte, sich weiter zu verschulden, an ihre Grenze stoße. Wie ernst die über alles gut informierte Fed die Situation nimmt, lässt sich daran ablesen, dass sie in den vergangenen vier Monaten 300 Mrd. Dollar Liquidität in den tagtäglichen Kreditverkehr zwischen den Banken (der Bereich, in dem sich die Banken mit „Rückkaufvereinbarung“ („Repo“, repurchase agreement) „overnight“ Kredite gewähren) hineingeschossen hat und dies mit 75 Mrd. Pro Monat fortsetzen will.5 Er- war vor der Lehman-Pleite völlig ausgetrocknet, weil keine Bank der anderen mehr traute. Dass Borio wie 2003 erneut, wenn auch vorsichtig, die seinem Amt geschuldete Zurückhaltung aufgibt, ist ein ernstes Signal. Es könnte, nebenbei gesagt, der Moment von Facebooks „Libra“ als „sichere“ Währungsstruktur nach dem Verfaulen der alten werden.
Dies ist aus gebotenem Anlass nur ein „Krisentickerchen“. Es ist ein vorläufiges und wir kommen darauf zurück.
1 Zur Sekuritisierungstechnik D. Hartmann, Krisen, Kämpfe, Kriege, Bd. 1, Alan Greenspans endloser „Tsunami“ Eine Angriffswelle zur Erneuerung kapitalistischer Macht, Berlin, Hamburg (Assoziation A) 1915, S. 169 ff.
4 Guter Überblick im italienischen Wirtschaftsblatt Il Sole 24 Ore vom 2.10.19
5 Il Sole 24 Ore 21.9.19. Ils Sole stellt das richtig in den Zusammenhang der Kreditkrise, während die3 FAZ vom 25.9.19 offensichtlich mit ihrem Verweis auf geldtechnische Zusammenhänge Beschwichtigungspolitik betreibt.
The first wave of attack against autonomous life in Exarcheia is part of a massive plan to transform the area into the Montmartre of Athens… an operation that is scheduled to take five years. At the end of the tunnel is the successful construction of the Exarcheia Metro Station. Intermediate stations along the way to this are the eviction of squats, the expulsion of refugees and the enforcement of full police control over Exarcheia. To support the police actions, an intervention force was formed from various parts of the city administration – from cleanliness to environment to city infrastructure. Graffiti is to be removed, smart lanterns installed and the dismantling of “Anarchy in Exarcheia” organized.
The projects affected by the evictions are Spirou Trikoupi 17, Transito, Rosa de Foc and GARE. Specifically, 143 people from two buildings in Sp. Trikoupi 17 were arrested and taken to the Attica Refugee Department to check whether they have legal residence permits to live in Greece. Of the 143, 57 are men, 51 are women and 35 are children from Iran, Iraq, Afghanistan, Eritrea and Turkey. From the first statement of the evicted squatters: “The fascist State evicted us today at 06:00 and they are taking us to the Petrou Rali police station. They dragged us out of our house. They threw our belongings out of the building and blocked the entrances and the windows. They are trying to bury us, but they don’t realize that we are seeds.”
From another building on Kallidromiou Street (GARE anarchist squat), three people who were present were taken into custody and taken to GADA (Athens Police Headquarters). The fourth building, on Fotila Street, was empty at the time of the eviction.
The operation was carried out by the MAT (Riot Police), OPKE (Special Identification and Evidence Unit) and DIAS (Motorcycle Unit), among others…
This first offensive – which is now complete – affects the northwestern part of Exarcheia, with the sole exception of Notara 26 squat. It is considered a symbol of the refugee squatting movement and is well guarded by the squatters and anarchists. Also the anarchist squat VOX – which according to the media is the headquarters of the revolutionary group Rouvikonas – has been spared for the time being. The offensive was clearly directed against less guarded squats. A simple first task. A first announcement. A taste of blood. And the great successes are still to come. Parallel to the action, Mitsotakis announced in the Greek Parliament the lifting of the controls on capital that have plagued Greece since 2015. The hypocritical government, which resembles a portrait of the past, will tackle several fronts – to celebrate the lifting of controls on capital, they are apparently going to distribute some money to small entrepreneurs and thus supposedly make their lives better, then set in motion the social destruction.
But resistance to the evictions will not be long in coming either. The big demo planned for mid-September will probably have to be brought forward. So far, many people from Exarcheia are calling for participation in this evening’s meeting at 6PM at Notara 26 in order to collectively decide on a course of action for the next few days. It is also recommended that people also get active internationally and for people to make preparations in order to be able to respond appropriately to the next wave of the offensive. Autumn is coming and it will be a long one. Let’s prepare ourselves for it.
Hurra, neue Regierung! Alles soll mal wieder anders und neu – vor allem besser werden. Die Wirtschaft soll aufwärts gehen, die jungen Griech*innen, die ins Ausland vor der Krise geflohen sind, wieder ins Land geholt und alte verlorene, durch die linke Parenthese zertretene Werte wieder auf die nationale Agenda gesetzt werden. Und Griechenland soll endlich ein sicheres Land werden. Polizei aufrüsten. Bandenkriminalität bekämpfen. Geflüchtete räumen. Anarchisten verjagen. Wo im Land, in dem die Demokratie erfunden wurde, kann dies besser exemplarisch auf einen Schlag vollzogen werden, als im dunklen Athener Anarcho-und-Junkie Stadtteil Exarchia. Sofortiger Regierungswechsel und wir säubern dieses gottverdammte Loch. Die Operation läuft an. Der Aktionsplan steht. Mitsotakis lächelt in die Kameras. Noch.
Für viele im heutigen Deutschland scheint es schwer vorstellbar: Es gibt in der Hauptstadt des Landes ein ganzes Viertel, in dem die Uhren noch etwas anders ticken, wo Menschen miteinander auf der Straße und kleinen Plätzen in Kontakt kommen, sich austauschen und gemeinsam Sachen machen, das Leben in relativ individueller und kollektiver Autonomie, in einer ständigen Balance, am Rande des Staats, erleben. Nicht alles ist perfekt. Oder einfach. Ohne Staat heißt auch Verantwortung, die auch oft auf die Füße fällt. So war es auch in Kreuzberg der 70er-80er oder im besetzten Christiania der ersten Generation in Kopenhagen. Es gibt diese Orte, in die sich die Polizei nicht immer rein traut, wo in einer Bar hängen gleichzeitig auch konspirativ ist und die Tourist*innen kommen, um prompt dem Flair des Tränengas wieder zu entlaufen. Sie haben es aber nicht verstanden. Die aus der Bar aber wissen Bescheid. Und werden jeden Angriff gemeinsam mit den Nachbar*innen abwehren.
Exarchia – in Griechenland für einige ein Synonym für Chaos und Drogenhandel – ist eigentlich eine historische Nachbarschaft zwischen zwei Hügeln in der City Athens. Benannt nach einem Lebensmittelhändler, entstand das Viertel Ende des 19. Jahrhunderts. Seit den 60er Jahren entwickelte es sich zum Studierendenviertel und Treffpunkt der alternativen Polit- und Kulturszene. Noch heute ist das Viertel geprägt von Cafés, Druckereien, Verlagen und Buchläden. Die Geschichte des Viertels ist eng verknüpft mit der Entwicklung des linksradikalen und anarchistischen Raums seit dem Ende der Diktatur 1974. Schon beim Polytechnikum Aufstand 1973 war eins der zentralen Transparente „gegen Staat und Kapital“ gerichtet. Im Dezember 2008, als der 15-jährige Schüler Alexandros Grigoropoulos, mitten im Herzen des Viertels durch Polizeikugeln stirbt, bricht eine Revolte aus, die sich sogar auf kleine Ortschaften und Inseln ausbreitete. Bereits 1985 gab es landesweite Unruhen, nachdem der 15 Jahre alte Michalis Kaltezas von Sicherheitskräften getötet wurde. Die gewaltsame Revolte 2008 ist der Höhepunkt dieses langjährigen Zusammentreffens von Schüler*innen und Studierenden, Politisierten und Prekären – eine Zwischenstation waren die studentischen Proteste 2006-07 gegen die Neoliberalisierung der Unis, die im Rahmen des Bologna Prozesses stattfand.
Das Viertel selbst ist im ständigen Wandel – einerseits ist es der Ort wo viele selbstorganisierte Initiativen zusammen kommen, neue soziale Bewegungen reflektiert werden und auch mit Repression begegnet werden, anderseits ein umkämpfter Ort zwischen verschiedenen wirtschaftlich-sozialen Interessen. Allein seine zentrale geographische Position in der Stadt macht es attraktiv für Immobilienhaie die sich eine Gentrifizierung der Gegend wünschen und letztendlich eine Verdrängung der widerständigen Bevölkerung und Einfuhr von gutverdienenden Yuppies aller Art und Länder. Vor dem Ausbruch der Staatsverschuldungskrise im Jahr 2009 konnten diese Versuche beobachtet werden – das Stadtbild veränderte sich durch die Öffnung von exklusiven und yuppisierten Cafés und sonstigen Einrichtungen, die auf das Wohl einer auf Konsum und Service einer Mittelschicht ausgelegt sind. Die Krise machte den Gentrifizierern einen Strich durch die Rechnung – Immobiliensektor in roten Zahlen, keine Kredite, Drogenbanden übernahmen das Revier, die Polizei verlor abermals die Kontrolle. Parallel vermehrten sich die politischen Besetzungen im Viertel, erst durch Not und Selbstorganisierung, dann als Solidaritätsstruktur für die Ankunft von tausenden Geflüchteten. Die Antwort der lokalen Bevölkerung und Aktivist*innen auf das Schließen der Grenzen war die Eröffnung von dutzenden Wohnsquats und die Organisation und Verteilung von Kleidung, Essen und Bildung. So bietet sich ein paradoxes Bild: Airbnb-Tourist*innen und Geflüchtete Hauswand an Hauswand, wobei erstere zunehmend auf Kritik stoßen und immer weniger willkommen sind (siehe Bild mit Transparent).
Ist Exarchia heute also nur ein „Problemviertel“? Tatsächlich reicht es einen Tag im Viertel zu verbringen um zu merken, dass es sich um mehr als nur eine „Hochburg von Autonomen“ handelt. Es ist einerseits ein historischer Ort sozialer Auseinandersetzungen der griechischen Gesellschaft und anderseits ein Kulminationspunkt von alternativen Prozessen. Eine vernetzte Nachbarschaft wehrt sich seit Jahren gegen organisierten Drogenhandel und Gentrifizierungsprozesse. Viele linke und anarchistische Gruppierungen betreiben eigene Zentren – darunter das „Zentrum für Migranten“ von „Diktyo“-Netzwerk für politische und soziale Rechte oder das „Nosotros“ – soziales Zentrum der „Antiautoritären Bewegung“ Athens. Molotow-cocktails bauen ist ein wichtiger Bestandteil der Straßenkultur, aber Menschen treffen sich auch zu Veranstaltungen zur Kapitalismuskritik oder bauen Kollektive auf. Im Rahmen der Krisenverwaltung der letzten Jahre entstanden weitere Projekte, wie eine soziale Arztpraxis beim anarchistischen Zentrum „Vox“ und es gab eine Welle von Besetzungen für und mit Geflüchteten. Die Besetzungen „Notara26“ oder das nicht mehr existierende „City Hotel Plaza“ haben tausenden Geflüchteten mit Schlafplätzen und Essen versorgt.
Was ist aber genau geplant? „Gesetzlose Orte auflösen“
Die folgenden Infos zum Aktionsplan stammen von Veröffentlichungen in griechischen Zeitungen – Sprache und Style wurden bei der Übersetzung bewusst beibehalten
Exarchia war dem Staat und seinen Regierungen schon immer ein Dorn im Auge und muss im öffentlichen Sicherheitsdiskurs als Beispiel des „Ausnahmezustands“ herhalten. In den letzten Monaten griffen die Konservativen die vermeintlich steigende Anzahl an Ausschreitungen öfter auf, um der Regierung von Alexis Tsipras Kontrollverlust vorzuwerfen. In einer Parlamentsdebatte im Wahlkampf behauptete der Chef der Konservativen Kyrgiakos Mitsotakis, dass er im Falle einer Regierungsübernahme „Exarchia aufräumen werde“ und alle „gesetzlosen Orte“ in diesem Stadtteil bedingungslos auflösen werde. Syriza antwortete auf Vorwürfe dieser Art mit der Anzweiflung einer solchen geforderten klassischen „Law-and-Order Politik“, die nur auf „repressive Polizeieinsätze und dem schüren von Hass aufbaut“.
Der aktuell in den Medien veröffentlichte Aktionsplan für Exarchia umfasst sowohl Maßnahmen, die eine sofortigen Umsetzung mit sich bringen als auch Interventionen mit kurzfristiger bis langfristiger Umsetzungszeit. Sofortige Umsetzungsmaßnahmen sehen unter anderem die Aktivierung eines Teams von Führungskräften aus verschiedenen kommunalen Abteilungen vor, mit der Aufgabe, die grundlegende urbane Funktionalität des gesamten Exarchia-Gebietes in sehr kurzer Zeit wiederherzustellen.
Es handelt sich um ein Team von 50 Mitarbeiter*innen aus den Bereichen Reinigung, Umwelt, Elektrizität, Gesundheit und Gemeindepolizei, die innerhalb von zwei Wochen und ohne zusätzliche Kosten in folgenden Bereiche tätig werden sollen:
– Verbesserung der Sauberkeit des Bereichs und Wiederherstellung von Graffiti-Wänden.
– Wiederherstellung der Funktion der städtischen Beleuchtung in allen Stadtteilen des Gebietes.
– Schadensbehebung in öffentlichen Bereichen und Stadtpflanzungen.
– Versiegelung von Gebäuden, die von der Besetzung befreit sind und Beseitigung jeglicher illegaler Handelstätigkeit.
– Sicherstellung der öffentlichen Gesundheit, insbesondere bei der Nutzung von Gebäuden.
Kurzfristig sind auch Maßnahmen zur „Verbesserung des täglichen Lebens“ für Bewohner*innen, Fachleuten und Besucher*innen vorgesehen. Die Führungskräfte der Gemeinde in den genannten Bereichen werden für die Umsetzung von Projekten verantwortlich sein, deren Kosten auf ca. 1,3 Mio. Euro geschätzt werden, die ebenfalls_zusätzlich die Ordnung in der Region wiederherstellen sollen. Dabei handelt sich vor allem um:
– Einrichtung eines Leitungsorgans für die Probleme und Maßnahmen des Gebiets und Ernennung eines Sonderbeauftragten für Exarchia.
– Implementierung eines partizipativen Prozessmodells, das die lokale Bevölkerung in die Entscheidungsfindung und Projektplanung einbezieht.
– Maßnahmen für „offene Schulen“ in den vier Gebieten der Region, die mit der Rückkehr zum normalen städtischen Funktionieren des Gebiets beginnen sollen. Die Aktion betrifft Lehrer, Eltern und Schüler, während auf den Schulhöfen kreative Aktivitäten, Sport und Spiel sowie Bildungsaktivitäten (nachmittags, am Wochenende) stattfinden sollen. Dazu gehören auch Planung von kulturellen Veranstaltungen auf dem Exarchia-Platz, in Schulen und im öffentlichen Raum.
– Sofortige Senkung der Gemeindeabgaben und Rationalisierung der TAP (kommunale Immobilienabgabe) für Unternehmen in der Region im Hinblick auf die Wiederbelebung des lokalen Marktes.
– Kleinere Arbeiten an Gehwegen und Bürgersteigen, um ihre Funktionalität zu verbessern und mehr Grünflächen zu schaffen, insbesondere an den Straßen Notara und Themistokleous.
Mittelfristig dürften sich die Maßnahmen auf die Funktionalität und das tägliche Leben des Gebiets auswirken, die sich somit positiv auf die lokale Wirtschaft, den Verkehr und das Image des Gebiets auswirken sollen. Dazu gehören Projekte mit geschätzten Kosten von ca. 7,9 Mio. € und einem Umsetzungszeitplan von bis zu 18 Monaten, wie z.B.:
– Restaurierung des Strefi-Hügels „um sich funktional und ästhetisch in den Alltag der Einheimischen zu integrieren“. Zunächst ist die Bereitstellung von 1,65 Mio. € für die Wiederherstellung der lokalen Infrastruktur (Spielplatz, Kiosk), die Verbesserung der Beleuchtung, die Schaffung von Gehwegen, Maßnahmen zur Regenwasserentnahme und Bewässerung, die Wiederherstellung bestehender und die Hinzufügung neuer Bepflanzungen und schließlich die Schaffung von Brandschutzinfrastruktur (Armaturen und möglicherweise eine kleine Pumpstation) vorgesehen.
– Die Fussgängerzonen der Straßen Kountouriotis, und Teilen der Straße Valtetsiou, sollen mit geschätzten Kosten von 400.000 € erneuert werden.
– Rückgabe der Nutzung des besetzten Navarino-Parks an die Gemeinde und dessen Umbau als städtische Grünflächen und einem Spielplatz für 150.000 €.
– Stärkung des lokalen Unternehmertums und Anreize für die Gründung neuer Unternehmen in der Region durch die Ressourcen der Attica RWF (Regionaler Wirtschaftsfond), die von der Gemeinde Athen verwaltet wird. Es ist die finanzielle Unterstützung der kleinen und mittleren Unternehmen, die in dieser schwierigen Zeit Schwierigkeiten hatten, sich zu behaupten. Die Unterstützung könnte sich auf 200.000 € an förderfähigen Kosten pro Unternehmen belaufen, wobei 100% der Gemeinschaftsmittel bereitgestellt werden.
– Anreize zur Gründung neuer Unternehmen in Exarchia, um das lokale Wirtschaftsökosystem zu stärken und zu bereichern, insbesondere in den Bereichen Kreativwirtschaft, Tourismus, Verlagswesen, Informations- und Telekommunikationstechnologien, mit geschätzten Kosten von 5 Mio. €.
– Schaffung von Anreizen für die Renovierung und Wiederverwendung bzw. Nutzung des alternden Gebäudebestandes und der Flächengebäude.
Das grosse Ziel: Metrostation in 5 Jahren
Langfristig, was voraussichtlich zwischen zwei und fünf Jahren bedeutet, sind Maßnahmen geplant, die das Image des Exarchia-Gebietes radikal verändern und neue Perspektiven und Entwicklungsmöglichkeiten in der Region schaffen sollen. Zu den Maßnahmen gehören:
– Die Zusammenführung des Archäologischen Museums und des historischen Polytechnikums zu einer einzigen funktionalen Einheit, wobei ein Teil des Bildungsauftrags in Bezug auf den Betrieb der Architektenschule beibehalten wird. Diese Intervention wird von den hohen Prioritäten der Regierung priorisiert und erfordert eine enge Zusammenarbeit aller Beteiligten.
– Die Inbetriebnahme der – schon seit vielen Jahren geplanten – U-Bahn-Station Exarchia im Rahmen der Entwicklung der Linie 4 (von der Beiruter Allee bis Goudi), die mit integrierten Grünwegen und neuen Fußgängerzonen kombiniert wird.
– Umsetzung des institutionellen Rahmens für verlassene Immobilien durch Schaffung geeigneter Finanzierungsinstrumente und Anreize in Zusammenarbeit mit der Europäischen Investitionsbank. Die Planung der Gemeinde beinhaltet die Entwicklung eines Kreditprodukts, das die Eigentümer von leeren und verlassenen Gebäuden finanziert, um Sanierungs- und Entwicklungsmaßnahmen durchzuführen, die es an die Gemeinde zurückzahlen, indem sie lange Zeit Gemeindegebühren zahlen.
Zurück zur Realität…
Klingt erstmal nach einem krassen Plan. Wichtig ist aber zu verstehen, dass solche Pläne in den letzten zwanzig Jahren bereits mehrfach die Seiten der Zeitungen gefüllt haben – vor allem im Sommerloch. Wenn du einen Taxifahrer in Athen fragst, ob sich in Exarchia was ändern wird – egal auf welcher Seite er steht – wird er achselzuckend zu Protokoll geben, dass sich natürlich nie etwas ändern wird.
Anläufe zu größeren Repressionskampagnen gab es schon mehrmals. In der Krisenzeit im Dezember 2012 kam es zu den Räumungen historischer Squats wie der Villa Amalia. Sogar in der Syriza-Zeit waren immer wieder verschiedene Projekte bedroht, weil Alexis Tsipras und seine Freund*innen als Reaktion auf den Druck der Opposition der Nea Demokratia, das ein oder andere Mal etwas preisgegeben haben – siehe vor allem die Räumungen von Refugee-Squats in Athen und Thessaloniki im Sommer 2016.
Dem Taxifahrer geben auch viele unserer Genoss*innen vor Ort recht. Einige lachen sich weiterhin kaputt über die Witzfigur Mitsotakis, die alles und alle „aufräumen“ möchte. Trotzdem formiert sich langsam der Widerstand – erste gemeinsame Plakate von bedrohten Projekten sind in den Straßen zu finden und eine große Szenedemo ist für den 14. September angekündigt. Viele Leute kehren nun von Sommerurlaub und -arbeit in die Stadt zurück. Infos werden ausgetauscht. Netzwerke aktiviert. Die große Panikmache hat noch nicht angefangen, trotz vermehrter Polizeikontrollen, vor allem gegen verdächtigte Dealer und trotz aktueller Presseartikel, die den bereits aufgeführten Aktionsplans anpreisen. Die Kontrollen können durchaus als Teil der Umsetzung des ersten Punkts des Aktionsplans verstanden werden. Das Bedrohungsszenario scheint wohl etwas größer zu sein als die letzten Male. Exarchia war ein wichtiger Grundstein des Wahlkampfs von Mitsotakis und eignet sich als perfektes Konfliktfeld im wieder hergestellten Zweiparteiensystem zwischen Syriza und Nea Dimokratia. Erste Räumungen von Besetzungen werden von Tag zu Tag erwartet .
Wird es zum großen Knall kommen? Eventuell bald. Vor allem als Teil eines größeren kapitalistischen Angriffs, wie zum Beispiel die Abschaffung des Uni-Asyls (das in den Unis seit dem Fall der Militärdiktatur existiert) und die Avancierung umfangreicher Privatisierungen im ganzen Staatsgebiet. Exarchia wird Mitsotakis und die über längere Frist drohenden Gentrifizierungsprozesse überleben, wenn es sich mit anderen kommenden sozialen Fronten verbindet. Der Aufstand sollte daher nicht ein identitärer werden – sonst geht er klaglos unter. Sondern einer für alle und um alles.
Dies ist ein erster Versuch, die Bewegung der gilets jaunes zu verstehen und sie auf den Kontext übergreifender Zusammenhänge zu beziehen. Wir müssten nun, unseren sozialrevolutionären Grundsätzen und Methoden folgend, an den Äußerungen aus dieser Bewegung anknüpfen um von hier aus das Verhältnis zu ihrem Umfeld erschließen. Denn so sehr sie ihre Gewänder aus der Geschichte auszuborgen scheint, so sehr gehört sie dem postfordistischen Frontgeschehen an.
Der Grund, warum wir anders verfahren, ist vielmehr das Verständnis der Betrachter*innen, das sich oft aus überkommenen, manchmal sogar rückständigen Vorstellungen speist und uns so den Blick versperrt. Wie etwa hergebrachte Vorstellungen der Zentralität der Arbeiter*innenklasse, der soziologischen Wissenschaftlichkeit, des revolutionären Avantgardismus und dergleichen mehr. Daher wollen wir die Bewegung zuerst historisch und kontextuell verorten. Wir beziehen unsere Kenntnisse aus den Berichten der Freund*innen, die sich in die Kämpfe eingebracht haben, an erster Stelle aber aus dem äußerst verdienstvollen Lundimatinpapier 4, das der Verlag lundimatin schon auf dem Höhepunkt der Kämpfe unter dem Titel „gilets jaunes: un assaut contre la socété“ (gilet jaunes, ein Angriff auf die Gesellschaft) herausgegeben hat..
Die Bewegung der gilets jaunes (im folgenden GJ) ist eine Antwort auf den technologisch/ökonomischen Angriff, der mit dem Namen Silicon Valley verbunden wird und ausgiebig beicapulcu1 behandelt wurde. Darauf wird hier ausdrücklich verwiesen. Zentrales Thema der GJ-Bewegung ist die im umfassenden Sinn verstandene Entwertung der alten unteren Mittelschichten, ihrer Arbeit, ihrer Lebensressourcen und –bedingungen, ihrer relativen Autonomien und die damit verbundenen Demütigungen. Genau das aber hat seinen Ursprung nicht in Frankreich. Es war das ausdrückliche Ziel der Innovationsoffensive aus Silicon Valley im Sinne der vom Ökomomen Joseph Schumpeter als kapitalistische Bewegkraft analysierten „schöpferischen Zerstörung“. Dieser Angriff „schöpferischer Zerstörung“ galt zunächst dem im amerikanischen Korporatismus eingebundenen sozialen Spektrum aus Arbeiter*innen und unteren Mittelschichten. Er galt ihren Arbeits- und Lebensformen, er galt ihrer Identität.2 Es war diese Offensive, die dann von Gerhard Schröder durch die „Agenda 2010“ in die BRD verlängert wurde, als Keim eines europäischen Vorstoßes, bis sie u.a. schließlich von Macron im Dienste der französischen Unternehmerschaft aufgegriffen wurde. Daher verfehlt ein Versuch, den Kampf der GJ als Ausdruck eines innerfranzösischen Konflikts oder gar eines innerfranzösischen Klassenkonflikts dazustellen, vollends diesen übergreifenden Zusammenhang. Er ist das Resultat einer französischen Selbstbezüglichkeit, die die Außenstehenden bei aller Liebe zu Frankreich und aller Bewunderung für seine kulturellen Leistungen immer wieder in großes Erstaunen versetzt. Nicht einmal die GJ tun das. Sie erklären korrekt die global übergreifenden Diktate der Finanzmärkte, der Globalisierung etc. zu den Urhebern.
Wenn sich die GJ als Opfer des neuen Reichtums verstehen, dann muss man wissen, dass auch er aus der technologischen Innovationsoffensive geschöpft wird. Denn er verdankt sich den Produktivitätssteigerungen, die aus den neuen Technologien fließen (im marxistischen Verständnis „relativer Mehrwert“ genannt). Das gilt damit zugleich auch für die relative Entwertung der GJ und ihrer Lebensbedingungen, ihres sozialen „standings“ bzw. Status etc. Schröder und Macron sind also nicht die Urheber dieses Entwertungsangriffs. Sie sind nur die in ihren Dienst gestellten politischen Exekutoren, Lakaien also. Das ist es jedoch, was die Bedeutung der GJ im Frontgeschehen des globalen Antagonismus ausmacht.
Die GJ sind ein Glücksfall in Europa. Ihr Stolz und das Selbstbewusstsein, mit dem sie sich den Entwertungsdiktaten Macrons entgegensetzen sind letztlich dem Umstand geschuldet, dass sich hier noch immer das Selbstverständnis des republikanische Citoy-enne-s ausprägt. Es beruhte auf einem sozialen Versprechen, mit dem die sozialrevolutionären plebejischen Kräfte der französischen Revolution aufgefangen wurden. Es wurde in der Geschichte immer wieder in Anspruch genommen Es ist in den Umhüllungen der jeweiligen Machformationen bis zu den fordistisch/korporatistischenen offenbar nicht erstickt worden. Es hat sie überdauert und wird jetzt ausdrücklichvon den GJ wieder in Anspruch genommen. So etwas gibt es nicht im übrigen Europa, vor allem nicht in Deutschland. Frühere historische Formationen in Deutschland mochten vielleicht noch Spuren des 1848er Aufbegehrens enthalten haben. Diese Spuren sind letztlich durch die willige Selbstüberantwortung aller Schichten, auch der Arbeitert*innenklasse, an die NS-Leistungsvolksgemeinschaft getilgt und ausgelöscht worden. Der Wille zur Freiheit und Gegenmacht gegen die Angriffe des Kapitalismus waren bis auf residuale Erinnerungen erloschen. Das erklärt auch das entwürdigende Ausbleiben einer Reaktion aus diesen Schichten auf die Bewegung der GJ. Diese Selbstentmündigung dauert an. Im Übrigen sollten sich Freund*innen der Arbeiter*innenklasse mit dem Verweis auf den Mittelschichtscharakter der GJ zurückhalten. Denn die Unterwerfungsstrategien im Fordismus reichten weit über die Arbeiter*innenklasse hinaus. Wenn nicht, wie wir argumentiert haben, der tradierte Klassenbegriff längst überholt war. Infolgedessen muss die soziale Revolution ihren Ausgangspunkt nicht gerade bei den Arbeiter*innen nehmen.
Für das Selbstverständnis der GJ beziehe ich mich in der gebotenen Kürze auf die Berichte der kämpfenden Freund*innen. Vor allem aber auf das LundiMatin-Buch und hierin auf das Interview mit Michalis Lianos. Sein Wert kann gar nicht überschätzt werden. Für seinen Abdruck gebührt der lm-Redaktion große Anerkennung. Lianos hat seine Erkenntnisse als „teilnehmender Borobachter“ in den Kämpfen gewonnen (wie schon zuvor in Griechenland). Ich selbst habe ihnen nichts hinzugefügt. Meine Formulierungen sind (wo nicht anders kenntlich gemacht) weitgehend sogar Überersetzungen wörtlicher Zitate.
Der Kern oder vielleicht die Quelle der Einstellungen der GJ ist die Wusch, unabhängig zu bleiben, ihre gewohnte Selbstständigkeit und Autonomie nicht zu verlieren. Darum jede Verweigerung der (Selbst-)Proletarisierung. Der Garant hierfür ist die Arbeit. Sie gibt ihnen die relative Unabhängigkeit. Daher lehnen sie jede Abhängigkeit vom Staat und öffentlichen Trägern ab. Arbeit ist der Sockel für Selbstwertgefühl, Wert und Würde und Stolz. Sie ist die Versicherung dafür, nicht zur Seite geschoben zu werden. Die Abhängigkeit vom Staat nennen sie „Assistanat“, den Status des „Stützentums“ (Abhängigkeitt von der „Stütze“), der (eigene Bewerkung) sich in so fatal bei der Aufrechterhaltung der Subalternität der Bedürftigen auswirkt. Weitere eigene Bemerkung: Diese Einstellung ist bedeutsamer, als es zunächst erscheint. Kenner des Revolutionsgeschehens im 20. Jahrhundert, aber auch Anarchist*innen wissen: Kraftquell der bäuerlichen Revolutionen in Russland, China, Mexiko, ja sogar Japan war die Selbstständigkeit und Kompetenz der bäuerlichen Familienwirtschaften in der Bodenbearbeitung.3
Ähnlich wie dort war es nicht die eigene Forderung nach Reichtum, in der sich diese Orientierung äußerte. Die Wünsche der GJ sind bescheiden: Ernährung, Miete (für die in bescheidenen Gegenden belegenen Wohnungen), Benzin für die von den Unternehmen abgezwungene Mobilität und die Möglichkeit, einmal im Monat mit der Familie ins Kino zu gehen und danach in ein bescheidenes Restaurant. All das erklärt auch die Orientierung an der Kaufkraft und die Forderung nicht etwa nach Lohnerhöhung, sondern der Beseitigung der steuerlichen Beeinträchtigung. Es erklärt auch die Tatsache, dass die Einschränkung des Einkommens als Erniedrigung erlebt wird.
Die GJ sehen den aus dem Fordnismus überkommenen gesellschaftlichen Konsens als durch den „Verrat der Eliten“ zerbrochen. Es sind Eliten, die aus ihnen „Nichtse machen wollten“. Aufgrund der damit verbundenen Aufkündigung der alten Formen politischer Repräsentation imaginieren sie sich in einer direkten Beziehung zur französischen Gesellschaft als „ihr Herz“. Sie praktizieren und propagieren eine direkte Demokratie unter radikaler Ablehnung von internen Hierarchien und Entscheidungs- bzw. Kompetenzzentren. Das erklärt auch, dass sie den Konflikt hartnäckig unmittelbar an den Ort tragen, an dem der Staatsapparat bzw. die Eliten in Paraden, Militärshows etc. ihren Machtanspruch demonstrieren: den Champs Elysèes. Ihre Zusammengehörigkeit sehen sie als „Solidarität“, ja sogar als familiäres Gemeinschaftsgefühl.
Grundsätzlich lehnten sie ursprünglich Gewalt von ihrer Seite zunächst ab, weil sie ja gerechte Ziele verfolgten und waren nur von der Gewalttätigkeit der Polizei und dem geifernden Hass schockiert, der ihnen aus den Medien entgegenschlug.
In ihrem „theoretischen“ Verständnis waren sie einigen Unterstützer*innen sogar voraus, wenn sie das System, die Finanzmärkte, die Globalisierung als Urheber ihrer Situation darstellten.
Uns selbst erscheint die Darstellung der GJ, die Eliten suchten aus ihnen „Nichtse“ zu machen, als außerordentlich interessant, und analytisch als geradezu hellsichtig. Denn LM hat im letzten Jahr einen Artikel unter dem Titel „L’histoire du dégout“ abgedruckt, in dem gerade dies – die Verwandlung des sozialen Status zu „Nichts“ – als Signum des postfordistischen Unterwerfungsangriffs dargestellt wird: Die Produktion des „sozialen Nichts“ erschien darin auch als Grund und Ausdruck der erbitterten Kämpfe beim G20-Kongress in Hamburg. Wie werden dem an dieser Stelle in Zukunft weiter nachgehen.
Die Schussfolgerungen aus den hier dargestellten Befunden sollen der Debatte vorbehalten bleiben, für die wir diesen blog als einen geeigneten Ort anbieten. Eins möchten wir jedoch anregen. Es sollte intensiv nach Mitteln und Wegen gesucht werden, Verbindungen zwischen den Bewegungen in Deutschland (gegen die Klimakatastrophe, gegen Vertreibung etc.) und den GJ herzustellen. Zur gegenseitigen Bereicherung und Schaffung einer europäischen sozialen Front. Diese Chance darf nicht verspielt werden.
1 Capulcu-Kollektiv, „Disrupt“ in: https://capulcu.blackblogs.org . Vgl. auch D. Hartmann, Krisen, Kämpfe, Kriege, Band 1/Alan Greenspans Endloser „Tsunami“/Eine Angriffswelle zur Errneuerung kapitalistischedr Macht, Berlin, Hamburg 2015, S. 9 ff., 66 ff., et passim.
Desmond Lachman, den wir als ehemaligen IWF-Funktionär und Mitglied des American Enterprise Institutes kennengelernt haben, misst der ökonomischen Krise in Italien zu Recht ein ominöses Gewicht nicht nur für den europäischen, sondern auch dem globalen Krisenprozess zu. Auf dem italienischen Terrain jedoch brauen sich nunmehr atemberaubende Entwicklungen zusammen. Lega-Chef und „hinter“ Präsident Guiseppe Conte der Vizepräsident und Innenminister Salvini als der eigentliche starke Mann im Kabinett beharrt mit unverminderter Aggressivität auf dem Plan, durch weitere Verschuldung Italien zu mehr Wachstum zu verhelfen. Bemerkenswert ist dabei, dass die staatliche Verschuldung zwar auf die exorbitante Höhe von 132,6 % im Verhältnis zum Bruttosozialprodukt gestiegen ist (erwartet wird bis Jahresende 133,7%), Wachstumsmaßnahmen jedoch noch gar nicht eingeleitet wurden, wie die Zeitung Reppubblica kürzlich vorgerechnet hat. Die Krisendynamik wird nunmehr von folgenden Momenten bestimmt:
Die EU-Kommission empfiehlt erneut die Einleitung eines Defizit-Verfahrens. Schlussendlich können Bußgelder, Streichung von EU-Geldern etc.verhängt werden. Dazu ist es bisher noch nie gekommen. Es würde wegen des Hin-und-Hers von Stellungnahmen etc. lange dauern und bereitet für sich genommen der Regierung weniger Sorgen. Sorgen machen sich zumindest Conte, Finanzminister Tria und vor allem die italienische Industrie wegen der mittelbaren Wirkungen. Die wichtigste liegt darin, dass die Rating-Agenturen (Moody’s, Standard&Poor’s, Fitch, auch DBRS) die Bewertung der italienischen Staatsanleihen, die bisher knapp über der „Ramsch“-Linie gehalten wurde, auf „Ramsch“ setzen könnte. Das hätte fatale Folgen. Zentralbanken und hier die bisher ultra-großzügige EZB („quantitative easing“) dürften sie nicht mehr kaufen, um der italienischen Regierung frisches Geld zu geben. Doch Salvini pokert weiter mit der Aussicht, dass dann die globale Krise ausbrechen würde, ein Crash in noch größeren Dimensionen als 2007/08. Der Poker lautet: „Wenn ihr mich sterben lasst, seid Ihr selber dran!.“ Doch in den (amerikanisch geprägten) Rating-Agenturen rumort es auf dem Hintergrund der Risikobereitschaft Trumps, dem allerdings der von ihm selbst eingesetzte Fed-Vorsitzende Jerome Powell nicht mehr folgen mag, auch nicht die Mehrheit der anderen Gouverneure.
Die gesamte Anspannung wird noch dadurch gesteigert, dass die globale Nachfrage (Kapital- und Konsumgüter gleichermaßen) weiter nachlässt mit der Folge, dass sogar die deutsche Wirtschaft durch das Sinken der Exporte trotz Stützung durch die Binnennachfrage zunehmend unter Druck gerät..
In dieser Situation hat Salvini jetzt eine weitere Offensive lanciert mit erheblich krisentreibender Wirkung. Ihre Konsequenzen sind noch gar nicht abzusehen. Er denkt daran, eine neue Verschuldensform als Teil des neuen Fiskalgesetzes einzuführen, unter dem Namen „mini-Bot“. Das sind massenhaft gedruckte Schuldpapiere, die wie Banknoten aussehen und auch so benutzt werden sollen. „Das alternative Geld benutzen wir wie Monopoly“, sagt Salvini dazu. Mario Draghi wies sofort darauf hin, dass eine alternative Parallel-Währung rechtlich verboten ist. „Nein, nein“, ließ sein Lega-Parlamentarier und Finanzspezialist Claudio Borghi reichlich spöttisch in einem Stampa-Interview vom 8.6. verlauten, „das ist ja gar kein Geld, denn eine parallele Währung wäre ein Desaster. sondern nur eine „cartolarizzazione di crediti esistenti“, eine „Verpapierung von Schulden“. Allerdings präsentierte er diese kartolinisierte Schuldform der Presse stolz in ihrer Banknotenform. Mit ihnen sollen, so Borghi, die Schulden der Regierung bezahlt werden.
Seitens der Unternehmer*innen traf dieses Ansinnen, Schulden mit Schulden in Monopoly-Form zu begleichen, auf geballte Ablehnung. Der Vizepräsident des Unternehmerverbands der Digitalwirtschaft (Confindustria digitale) und selbst CEO von „Digital Magics“ Marco Gay spottete in einem Interview mit dem Corriere de la Sera (8.6.): „Sie (die Unternehmer) bezahlen Rohstoffe und Kapitalgüterlieferanten in Euro. Glaubten die etwa, ein deutscher Lieferant würde sich in mini-Bot bezahlen lassen? Mini-Bot, die ohnehin im Wert verfallen würden?… Kein Scherz, die mini-Bot könnten die Tür zum Austritt aus dem Euro sein. Und für die Unternehmen wäre das ein Desaster“ Ähnlich ablehnend äußerte sich der Präsident der Jungunternehmerverbands Alessio Rossi am gleichen Tag gegenüber La Stampa anlässlich einer Jungunternehmerkonferenz in Rapallo. Unternehmen brauchten für ihre Entwicklung die Teilhabe an einer offenen, auch hinsichtlich der Währungen vernetzten Welt, Italien würde sonst auf der Ersatzbank sitzen bleiben.
Die Befürchtungen Gays sind allerdings alles andere als unberechtigt. Die Lage könnte sogar ernster werden. Wir wissen aus der Geschichte des 20.Jahrhunderts, dass als Geld behandelte staatliche Schuldscheine (wie in Deutschland z.B. Reichskreditkassenscheine) ein Mittel bzw. eine Begleiterscheinung der Zertrümmerung einer ganzen globalen ökonomischen Ordnung darstellten.1 Salvinis Vorstoß erinnert zwar an die „mini-assegni“, die zu Zeiten der „Währungsschlange“, Vorform der Euro-Währungsunion, gegen deren Anforderungen eingeführt worden waren, als Italien in den Euro wollte. Jetzt, in Anbetracht des Konflikts mit dem Euroregime, ist die Offensive gefährlicher und raffinierter, als es an der Oberfläche den Anschein hat und, wie wir denken, langfristig angelegt. Und grundsätzlich. Denn den neuen Geldtheorien zufolge, ist „Geld“ aus Schulden hervorgegangen und während des Goldstandards war die Banknote der Schuldschein für eine zu leistende Menge Gold oder Silber. So sind die mini-Bots beides: Schulden und eine Währung. Potenziell zerstörerisch und als Durchbruch in eine von den Fesseln des Euro befreite Zukunft geeignet.
Auf jeden Fall ist Streit vorprogrammiert: Salvinis neues Finanzgesetz wird voraussichtlich die Verpflichtung der Banken begründen, die mini-Bots in Euro einzulösen. Die Frage wird sein: kann eine Diskontierbarkeit, eine Einlösbarkeit bei der italienischen Zentralbank und weiterhin bei der der EZB begründet werden, die allein letztlich Cash bringen kann? Wie auch immer die Hindernisse aussehen werden: einmal in den Ring geworfen, wird die Idee weiter verfolgt werden. Spätestens in einem zugespitzten Krisenstadium.
Krisenticker wird dies verfolgen und berichten.
1 Ausführlich geschildert in D. Hartmann, Krisen, Kämpfe, Kriege, Bd. 2, Innovative Barbareien gegen soziale Revolution. Kapitalismus und Massengewalt im 20. Jahrhundert, S. 182 ff., 516 ff., 535 ff.